Aus dem Leben gerissen

Aus dem Leben gerissen

Erschöpft, erleichtert und tieftraurig erreichen ukrainische Flüchtlinge Deutschland.In Gelsenkirchen kommen sie unter anderem in einem ehemaligen Kloster unter. Hier kümmern sich Sozialarbeiterinnen der Diakonie um die Frauen und Kinder. Derweil bereitet sich die Stadt auf weitere Geflüchtete vor.
Erschöpft, erleichtert und tieftraurig erreichen ukrainische Flüchtlinge Deutschland.In Gelsenkirchen kommen sie unter anderem in einem ehemaligen Kloster unter. Hier kümmern sich Sozialarbeiterinnen der Diakonie um die Frauen und Kinder. Derweil bereitet sich die Stadt auf weitere Geflüchtete vor.

Katharina Küsten und Michelle Zion (v. l.) bei einer Besprechung mit einer Kollegin; BILD: ANDRÉ PRZYBYL

„Die Geflüchteten wurden von jetzt auf gleich aus dem Leben gerissen“, sagt Katharina Küsgen. „Sie fanden sich plötzlich in einer Situation wieder, die wir uns nicht vorstellen können – das merkt man ihnen an.“ Einige kommen mit dem Bus nach Deutschland. „Andere haben sich zu Fuß nach Polen durchgeschlagen – sie haben sechs oder sieben Tage nichts gegessen, die Kinder haben wunde Füße vom langen Marsch.“
Katharina Küsgen ist Leiterin des Fachbereichs Flucht und Migration beim Diakonischen Werk Gelsenkirchen und Wattenscheid. Gemeinsam mit der Pfarrei St. Urbanus betreut der Wohlfahrtsverband Geflüchtete aus der Ukraine, die im ehemaligen Kloster St. Mariä Himmelfahrt in Buer untergebracht sind. Daneben kümmert sich die Diakonie noch um Flüchtlinge in zwei weiteren Unterkünften in Buer.
Am 4. März fällt die Entscheidung, das ehemalige Kloster in eine Flüchtlingsunterkunft zu verwandeln. „Eine Woche später sind die ersten Bewohnerinnen und Bewohner eingezogen“, erklärt die Sozialarbeiterin. „Sie sind mit dem Hilfskonvoi der Stadt gekommen, der Hilfsgüter zur rumänisch-ukrainischen Grenze gebracht und die Flüchtlinge von dort nach Deutschland mitgenommen hat.“ Zurzeit wohnen 17 Menschen – hauptsächlich Frauen und Kinder – in der Einrichtung. „Insgesamt 52 können wir hier unterbringen.“

Gelsenkirchener Hilfskonvoi erreichte die rumänisch-ukrainische Grenze

In der Nacht zum 6. März macht sich der Hilfskonvoi von Gelsenkirchen aus auf den Weg zur rumänisch-ukrainischen Grenze bei Siret. Ein LKW der Feuerwehr, ein Transporter des Deutschen Roten Kreuzes und ein Bus des Unternehmens Nickel bringen unter anderem Feldbetten, Decken und Medikamente in die Region. Auf dem Rückweg nimmt der Bus Flüchtlinge mit nach Deutschland. Nach einer Woche erreichen sie am 11. März Gelsenkirchen.
Katharina Küsgen ist bei der Ankunft der Flüchtlinge dabei. „Sie waren total erschöpft“, berichtet sie. „Von der rumänischen Grenze ist der Bus durchgefahren.“ Zwischenstopps werden nur eingelegt, um Flüchtlinge in München oder Nürnberg abzusetzen, wo diese bei Verwandten unterkommen. „Die Menschen waren erleichtert, in Deutschland angekommen zu sein, aber auch sehr traurig, weil viele Frauen ihre Ehemänner und Freunde zurücklassen mussten – und sie wissen nicht, ob sie sich jemals wiedersehen werden.“ Häufig sei das erste, was gefragt werde, ob es WLAN gebe. „Die Frauen telefonieren direkt nach ihrer Ankunft mit der Heimat, um zu berichten, dass sie gut angekommen sind.“
Von ihrer Flucht berichten nur wenige. „Sie müssen das Erlebte erst verarbeiten.“ Von einer jungen Frau weiß Katharina Küsgen, dass „das ukrainische Militär ihren Freund an der Grenze aus dem Bus geholt hatte – sie war total schockiert“, erzählt sie. „Er war im wehrfähigen Alter und durfte deshalb nicht ausreisen.“ Zwar habe er angegeben, eine Behinderung zu haben – „aber das sollte ein Militärarzt feststellen“. Mittlerweile ist allerdings auch der junge Mann in Gelsenkirchen angekommen.

Hilfe für die Geflüchteten

Aus der Nähe der Stadt Krementschuk, aus Kiew und Charkiw kommen die Geflüchteten. „Die Frauen und Kinder aus Charkiw sind geflohen, als bereits die Bomben einschlugen“, berichtet Katharina Küsgen. Sie bringen nur wenige Habseligkeiten mit. „Jeder ein Köfferchen, vielleicht noch einen Rucksack und eine Tasche für Papiere wie Personalausweis und Impfzertifikat.“ Das war’s.
In der Unterkunft erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner Kleidung und Lebensmittel – allesamt Spenden. Der Gelsenkirchener Caterer Borutta sorgt für das Mittagessen. Nun bekommen sie auch Unterstützung vom Staat, „sodass sie sich selbst versorgen können“.
Im ehemaligen Kloster kümmert sich Michelle Ziob gemeinsam mit einer Kollegin um die Bewohnerinnen und Bewohner. „Wir haben uns zunächst ein Büro eingerichtet und einen Überblick über das Gebäude verschafft“, erzählt sie. „Nun wissen wir zum Beispiel, wie viele Betten in einem Zimmer zur Verfügung stehen.“ Kleiderspenden annehmen und sortieren, den Weg zur nächsten Apotheke oder zum Wochenmarkt erklären – „wir kümmern uns um alltägliche Anliegen“. Auf ihre Erlebnisse sprechen die Sozialarbeiterinnen die Geflüchteten nicht an. „Aber manche zeigen uns Fotos und fragen sich, warum ihre Heimat zerstört ist“, sagt die 20-Jährige. Sie ist froh, in der Einrichtung zu arbeiten. „Es ist schön, den Leuten zu helfen und ihnen eine Freude machen zu können – dabei kann ich für kurze Zeit den Krieg vergessen.“

Eigene Wohnungen für Frauen und Kinder

Auf Dauer sollen die Frauen und Kinder eigene Wohnungen beziehen. „In den ersten Tagen gibt die Gemeinschaft Sicherheit“, meint Katharina Küsgen. „Doch nach einigen Tagen werden wir schauen, wo Wohnraum frei ist – so schaffen wir Platz für weitere Geflüchtete.“
Für Katharina Küsgen ist die Begegnung mit den Flüchtlingen emotional. „Als mich Frauen in den Arm genommen haben, weil ich ihnen Babysachen überreicht habe, oder sich Kinder über eine Zahnbürste gefreut haben – da musste ich schlucken.“ Auch sie ist froh, selbst aktiv werden zu können. „Zuvor hatte ich mehr Zeit, mir Gedanken zu machen.“ Sie sorgt sich, dass der Krieg weitere Teile Europas erfassen könnte. „Es kann ja nur ein Blindgänger sein, der in einem Mitgliedsland der Nato landet“, sagt sie. „Daraus kann dann ganz schnell ein Flächenbrand entstehen – doch das verdränge ich zumeist.“
Die Stadt bereitet sich derweil darauf vor, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. So wird derzeit die Emscher-Lippe-Halle für die Erstaufnahme vorbereitet. Ab spätestens Mitte April sollen in der Halle bis zu 250 Menschen vorübergehend unterkommen. Die Stadt kann hier auf Erfahrungen aus dem Jahr 2015 zurückgreifen, als in der Halle Flüchtlingen aus Syrien untergebracht wurden.

Weitere Unterkünfte für Geflüchtete

Bereits zu einer Flüchtlingsunterkunft umgebaut ist die ehemalige Hauptschule an der Mehringstraße. Auch hier finden bis zu 250 Menschen Platz. Das benachbarte Jugendheim und eine Kindertagesstätte könnten der Stadt zufolge den Geflüchteten außerdem langfristig Unterstützung anbieten. Weitere Geflüchtete können in den Sporthallen an der Breddestraße und an der Wildenbruchstraße unterkommen. Die Hallen bieten jeweils Platz für 100 Menschen.
Daneben stellen Hotels  Zimmer zur Verfügung. „Diese sind natürlich teurer als die Gemeinschaftsunterkünfte“, räumt Krisenstabsleiter Luidger Wolterhoff ein. „Aber wir haben mit den Betreibern Sonderkonditionen vereinbart, sodass sich die Kosten in Grenzen halten.“
Insgesamt könne die Stadt so kurzfristig bis zu 1.000 Flüchtlinge unterbringen. „Unser Ziel ist es aber, die Menschen nach einer möglichst kurzen Verweildauer in den Gemeinschaftsunterkünften zügig in privaten Wohnraum zu vermitteln“, erklärt Wolterhoff.
An Angeboten würde es in Gelsenkirchen nicht mangeln – etwa 160 Wohnungen seien der Stadt bereits gemeldet worden. „Wie das bei Mietwohnungen so ist, sind diese jedoch unmöbliert“, sagt der Krisenstabsleiter. „Wir haben unter anderem Kontakt zu den Möbelbörsen der Wohlfahrtsverbände aufgenommen, um die Wohnungen ausrüsten zu können.“

Ansprechpartner für Geflüchtete

Und die Stadt steht noch vor einem weiteren Problem: „Wir haben festgestellt, dass viele der geflüchteten Menschen sich möglichst schnell bei den Behörden in Deutschland anmelden wollen“, berichtet Luidger Wolterhoff. Das würde ihnen Sicherheit geben. Der Ansturm habe die Ausländerbehörde Mitte März überfordert, gibt er zu. Die Geflüchteten mussten lange Wartezeiten in Kauf nehmen.
Mittlerweile hat die Stadt im Sportzentrum Schürenkamp eine erste Anlaufstelle eingerichtet. Hier stehen Beschäftigte der Stadtverwaltung als Ansprechpartner nicht nur zur Registrierung zur Verfügung. Auch Fragen zur Unterbringung, ärztlichen Behandlung oder finanziellen Unterstützung sollen beantwortet werden. „Wir wollen eine fachübergreifende Erstversorgung anbieten“, erklärt Wolterhoff. Die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zieht die Stadt jedoch an anderen Stellen ab – in der Wirtschaftsförderung, Kämmerei oder Bauordnung. „Es kann sein, dass es dadurch zu Einschränkungen im Arbeitsbetrieb der Stadtverwaltung kommt“, räumt der Krisenstabsleiter ein.
Er erinnerte daran, dass sich die geflüchteten Menschen aus der Ukraine keine Sorge um ihre Aufenthaltsberechtigung machen müssen. Bis zu 90 Tage können sie sich visumsfrei in Deutschland aufhalten: „Sie haben genug Zeit, sich zu melden und registrieren zu lassen.“ Aufgeschoben ist jedoch nicht aufgehoben. Und in den kommenden Wochen werden immer mehr Flüchtlinge Gelsenkirchen erreichen. André Przyb