Gedenken an Novemberpogrome 1938: „Nie wieder ist Jetzt!“

Über 900 Menschen nahmen am Abend des 9. November an Schweigemarsch und Kundgebung zur Erinnerung an die Verbrechen vor 85 Jahren teil.
Gedenken an Novemberpogrome 1938: „Nie wieder ist Jetzt!“

Schweigezug und Kundgebung Novemberpogrome –Foto: Stadt Gelsenkirchen
copyright by : Gerd Kaemper/ gkfoto.de

„Die mörderischen Angriffe der Terrororganisation Hamas am hohen jüdischen Feiertag Simchat Tora in Israel forderten weit über 1.000 Todesopfer. Eine antisemitische Gewalttat von diesem Ausmaß gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr“, hieß es in dem Aufruf der Demokratische Initiative zum diesjährigen Gedenken an die Pogrome in der so genannten Reichskristallnacht am 9. November 1938. Vor wenigen Wochen, am 7. Oktober, hatte die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen, über 1.000 Menschen getötet und über 200 Geiseln genommen.

Mehr als 900 Menschen folgten dem Aufruf der Demokratischen Initiative, um ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Ziel eines Schweigemarsches war das Mahnmal für jüdische Zwangsarbeiterinnen auf dem Friedhof Horst-Süd. „Nie wieder! Haben wir diesen Schwur schon vergessen? Wir müssen mehr tun, sehr viel mehr tun gegen den wieder wachsenden Judenhass, hier und weltweit. All unsere Träume als Juden friedlich in dieser Welt leben zu können, sind nicht in Erfüllung gegangen. Wir erleben, wie hier in Deutschland Menschen auf die Straße gehen und Terroristen feiern, die unschuldige Menschen wie Tiere abschlachten“, sagte Judith Neuwald-Tasbach.

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Schmerzliche Erinnerungen

Die ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen sagte dies an einem Ort, mit dem sie schmerzliche Erinnerungen verbindet. Ihre Mutter war eine der jüdischen Zwangsarbeiterinnen und hätte in Gelsenkirchen-Horst fast ihr Leben verloren. Sie überlebte schwer verletzt. „Damals gab es auch im sogenannten Dritten Reich mutige Menschen, die Menschen jüdischen Glaubens geholfen haben. Doch es waren viel zu wenige“, beklagte Judith Neuwald-Tasbach. Einer dieser Menschen war Dr. Rudolf Bertram, der auch der Mutter von Judith Neuwald-Tasbach das Leben rettete. Heute erinnert eine Gedenktafel vor dem St. Josef-Hospital in Horst an ihn und die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zählt ihn zu den Gerechten unter den Völkern. „Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“, zitierte Judith Neuwald-Tasbach aus dem Talmud, neben der Tora das wichtigste Schriftstück in der jüdischen Religion.

Mit dem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet für die ermordeten Juden Europas, wurde der Opfer gedacht und Orte des nationalsozialistischen Vernichtungswahns wie Auschwitz, Dachau, Ravensbrück oder Buchenwald in Erinnerung gerufen. In ihrer Rede stellte Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge fest: „Wir setzen heute ein Zeichen, so wie wir das stets am 9. November tun, seit fast 60 Jahren schon. Allerdings spüren wir alle: Heute ist kein Tag der Routine. Das Zeichen, das wir setzen wollen und müssen, ist jetzt noch wichtiger als sonst.“

Wie wichtig dieses Zeichen ist, wie wichtig es ist, sich der Opfer der nationalsozialistischen Gewalttaten und staatlicher Verbrechen in Gelsenkirchen zu erinnern, machte die Oberbürgermeisterin sehr deutlich. Sie wies auf die jüngsten, „empörenden Schmierereien an mehreren Orten in unserer Stadt“ hin und betonte: „Besonders widerwärtig an dem Mahnmal für die einstige Synagoge in Buer.“ Schmiererei, so die Oberbürgermeisterin, sei ein viel zu schwaches Wort für das, was da versucht worden sei: „Denn versucht wurde ja, mit dem Pinsel oder der Sprühdose den Schmerz und die Scham über die Taten der deutschen Geschichte zu überschreiben – mit Vorwürfen gegen das heutige Israel. Ganz so, als ob man die deutsche Schuld ungeschehen machen könnte durch den perfiden Verweis auf den angegriffenen jüdischen Staat: Guck mal, die wenden ja auch Gewalt an, wenn sie geschlagen werden! Wenn jemand nicht weiß, was Antisemitismus ist – hier wird es mehr als deutlich!“

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Antisemitismus entschlossen entgegentreten

Welge forderte dazu auf, Antisemitismus jedweder Art entschlossen entgegenzutreten, Der Krieg in den das nationalsozialistische Deutschland mit seinem Rassenwahn und Antisemitismus die Welt stürzte, forderte über 70 Millionen Tote. Auf dem Friedhof in Horst erinnert das Mahnmal an 150 Frauen und Mädchen jüdischen Glaubens, die bei einem Bombenangriff im September 1944 umkamen, weil ihnen der Zugang zu Schutzräumen verwehrt wurde. Auf dem damaligen Gelsenberg-Gelände hatten sie in einem Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald Zwangsarbeit geleistet.

Im Jahr 1948 haben an diesem Ort jüdische Überlebende eines der ersten Gelsenkirchener Mahnmale für die Opfer der NS-Zeit errichtet. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Stadt Gelsenkirchen haben nun eine Tafel erneuert, die über alle Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg informiert, die auf dem Horster Friedhof die letzte Ruhestätte gefunden haben. Thomas Kutschaty, Landesvorsitzender des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Nordrhein-Westfalen, appellierte in seiner Rede: „Nie wieder ist Jetzt“, und mahnte die Erinnerung an die schrecklichen Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft für zukünftige Generationen wachzuhalten: „Vielleicht war es nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie so wichtig wie heute.“ Zum Abschluss der Kundgebung sangen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Lied „Die Moorsoldaten“, das von Insassen des Konzentrationslagers Börgermoor im Emsland verfasst wurde. In diesem Konzentrationslager wurden vorwiegend politische Gegner des NS-Regimes gefangen gehalten.