Buer: So ist es um die Innenstadt bestellt

Macht Ende August zu: die H&M-Filiale an der Hochstraße. Foto: André Przybyl

Buer: So ist es um die Innenstadt bestellt

Saturn – macht im September zu. H&M – gibt sein Geschäft an der Hochstraße im August auf. Alles Corona geschuldet oder liegt da mehr im Argen? So ist es um die Innenstadt von Buer bestellt.

„Wenn ich zwischen 7 und 8 Uhr morgens über die Hochstraße laufe, muss ich springen wie ein Hase, um nicht von einem Lieferfahrzeug angefahren zu werden“, erklärt Siegbert Panteleit. „Das kann doch nicht sein.“ Der Sprecher der Buer Management GmbH plädiert dafür, dringend die Logistik in der Innenstadt von Buer zu überdenken.

„Corona hat Entwicklungen beschleunigt“

Herausforderungen und Chancen für die Entwicklung der Buerschen Innenstadt stehen beim 51. Buerschen Forum zur Debatte. Am 18. Mai lädt der SPD Ortsverein Buer-Mitte zu dem digitalen Meinungsaustausch ein. Auf dem virtuellen Podium sitzt neben Panteleit noch Lukas Günther, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion.

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„Vor Corona hat Mut gemacht, dass sich am Robinienhof und an der Markthalle etwas getan hat“, erklärt Günther. „Corona hat dann Entwicklungen beschleunigt – das betrifft nicht nur Buer.“ Schon vor der Pandemie habe der Online-Handel eine Spirale in Gang gesetzt, „die sich nicht mehr zurückdrehen lässt“. Seiner Meinung nach müssen die Stadtzentren mittel- bis langfristig transformiert werden: „Hin zu weniger Autos und mehr Kultur sowie Gastronomie.“ Neben weiteren Akteuren sei hier auch die Kommunalpolitik gefragt: „Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen, um diese Ziele zu erreichen.“

Innenstadt nicht isoliert betrachten

Siegbert Panteleit erklärt, dass Buer wieder attraktiver für junge Familien werden muss. „Nur so kann Kaufkraft in die Stadt fließen.“ Die Innenstadt könne nicht isoliert betrachten werden, sondern müsse mit ihrem Umfeld gesehen werden. „Rund um die Westfälische Hochschule hat sich eine Gründerszene entwickelt“, sagt Panteleit. „Viele sind von den Arbeitsplätzen begeistert, die hier geboten werden – von den Wohnmöglichkeiten sind sie es nicht.“ In Buer fehle es an adäquatem Wohnraum, der Arbeit und Wohnen verknüpfe.

„Ein weiteres Problem ist, dass wir eine Infrastruktur und Immobilien-Substanz haben, die in den Wirtschaftswunderjahren entstanden sind“, erklärt Panteleit. „Für heutige Anforderungen sind die nicht mehr brauchbar.“ Ferner plädiert er dafür, den öffentlichen Raum wieder nutzbar zu machen. „Ein Wetterschutz in der Innenstadt ist geboten und wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Besucherinnen und Besucher wohlfühlen.“ Diese Probleme ließen sich nicht alleine bewältigen, sondern nur im Zusammenschluss vieler.

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Genehmigungen brauchen „28 Jahre“

Ebenfalls dem Buerschen Forum zugeschaltet ist Udo „Ole“ Siemienski, Vorsitzender der Werbegemeinschaft Buer. Er sieht das größte Problem an anderer Stelle: „Wir haben Ideen ohne Ende“, sagt Siemienski. „Aber es kann nicht sein, wie lange Genehmigungen seitens der Stadt brauchen.“ Es gebe viele Leute, die nicht nach Gelsenkirchen kommen würden, weil Genehmigungen hier „28 Jahre“ bräuchten. „Darauf haben die keine Lust.“ Das betreffe sowohl Veranstaltungen als auch Gastronomie und Einzelhandel.

Sieht auch die Kundinnen und Kunden in der Pflicht: Angelika Ullrich, Inhaberin des Braut-Ateliers Angelina. Foto: André Przybyl

 

Ein Urgestein des Buerschen Einzelhandels ist Lederwaren Droste. „Mein Großvater hat das Geschäft vor 90 Jahren gegründet“, erzählt Marc Decker, dessen Mutter Dorothee das Unternehmen seit zwölf Jahren leitet. Sechs Mitarbeiter sind heute an der Hochstraße beschäftigt. „Wir haben in der Pandemie keine Kurzarbeit angemeldet“, sagt Decker. „Unsere drei Vollzeit-Kräfte sind normal im Einsatz, nur unsere 450-Euro-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter arbeiten zurzeit weniger.“

„Wir setzen auf Beratung“

In Corona-Zeiten sucht das Unternehmen verstärkt über Facebook und Co. den Kontakt zu seiner Kundschaft. „Wir setzen auf Beratung“, erklärt Decker. „Per Telefon, Video-Telefonie und WhatsApp.“ Gerade im ersten Lockdown sei das stark angenommen worden. Schon vor Corona ist das Unternehmen in den Sozialen Medien aktiv. „Doch in der Pandemie haben wir mehr Zeit investiert und sind deutlich besser geworden.“ Über einen kleinen Online-Shop verkauft Decker seine Waren ebenfalls. „Ganz ohne geht es heute nicht mehr.“ Gut läuft auch Click and Meet: „Damit haben wir gar nicht gerechnet.“

Viele Kunden halten dem Geschäft die Treue. „Sie haben ausdrücklich betont, dass sie nicht online kaufen wollen“, sagt Marc Decker. „Sie wollen Ansprechpartner, wollen die Ware anfassen und persönlich beraten werden.“ „Rabatt-Schlachten“ führt das Unternehmen nicht. „Damit sind wir gut gefahren – bis die Inzidenz wieder in die Höhe ging und Click and Meet verboten wurde.“ Daraufhin bricht der Umsatz erneut ein. Als Reaktion erweitert das Geschäft sein Sortiment: „Wir führen nun auch Schuhe und Bekleidung für Kleinkinder“, fährt Decker fort. „Damit haben wir eine Marktlücke in Buer entdeckt.“

Leestände sind erschreckend

Dennoch sind die Umsätze „deutlich schlechter“ als noch vor Corona. „Im Vergleich zum Jahr 2019 ist der Umsatz in den ersten vier Monaten des vergangenen Jahres um über 50 Prozent zurückgegangen.“

Die vielen Leerstände in der Buerschen Innenstadt findet Marc Decker erschreckend. „Hinzu kommt, dass viele Geschäfte aufgrund der Pandemie geschlossen sind“, sagt Decker. „Die Besucherfrequenz ist insgesamt zurückgegangen.“ Die Aufenthaltsqualität sei nicht gegeben. „Sie können nichts essen, sie können nichts trinken – das erschwert das Geschäft.“ Hinzu kommen schlechte Parkmöglichkeiten. „Es gibt zu wenige und zu kleine Parkplätze“, findet Decker. „Und manche sagen, die vorhandenen sind zu teuer.“

„Viele Akteure sind gefragt“

Die Erreichbarkeit und die Qualität der Innenstadt seien Themen, „die wir aufgreifen müssen“. „Da sind viele Akteure gefragt“, erklärt Decker. „Die Stadt, die Wirtschaftsförderung, die Geschäftsleute und die Immobilien-Eigentümer müssen zusammenarbeiten, um den Standort wieder attraktiver zu machen.“ Gastronomie gehört für Decker ebenfalls dazu. „Vielleicht brauchen wir auch eine Kinderbetreuung und mehr Service-Angebote.“ Ihm schwebt ein Service-Point für Radfahrer vor, wo diese ihr Rad abstellen und kleine Reparaturen durchführen lassen können.

„Wir müssen Dinge anbieten, die das Internet nicht kann“, fasst Marc Decker zusammen. „Das ist Service, das ist Beratung, das ist ein Erlebnis.“ Denn den Herrn Amazon oder Ebay müsse niemand anrufen – „da hängt man nur in der Warteschleife“.

„Überrascht, dass H&M gekündigt hat“

Von der Stadt fühlt sich der Geschäftsmann alleingelassen. „Im Stadtsüden wird die Stadtentwicklung vorangetrieben“, sagt Decker, „doch in Buer passiert davon nichts“. Anders als andere Städte im Umkreis könne Buer mit vielen inhabergeführten Geschäften punkten. „Das dürfen wir nicht kaputt gehen lassen, das müssen wir ausspielen“, findet Marc Decker. Allein sei eine solche Herausforderung allerdings nicht zu bewältigen. „Das schaffen wir nur zusammen.“

Im Vergleich zu Lederwaren Droste ist H&M ein Neuling in Buer: Seit 2009 ist der Modemarkt an der Hochstraße vertreten. Doch nun hat das schwedische Unternehmen angekündigt, die Filiale Ende August zu schließen. „Wir kennen die Umsätze an dem Standort und wissen, dass diese sehr gut sind“, erklärt Gunnar Marx. „Insofern sind wir natürlich sehr überrascht, dass H&M einen gut laufenden Standort gekündigt hat.“ Marx ist Eigentümer der Immobilie, in der das Modegeschäft untergebracht ist.

„Mietzins signifikant gesenkt“

Der ursprüngliche Mietvertrag habe eine Laufzeit von zehn Jahren gehabt und sei 2019 ausgelaufen. Der Konzern verlängert seinerzeit bis zum 31. August dieses Jahres – obwohl die Möglichkeit bestanden habe, weitere fünf Jahre an der Hochstraße zu bleiben. Dann kommt die Nachricht, dass der Standort geschlossen wird. „Wir haben sehr um H&M als Mieter gekämpft und bereits 2019 den Mietzins signifikant gesenkt“, sagt Marx. „Als wir die Kündigung erhalten haben, haben wir uns sogar vergeblich um ein Gespräch mit der Geschäftsführung bemüht, um eine Lösung zu finden.“

Er kann trotzdem nachvollziehen, warum das schwedische Unternehmen die Filiale schließt. „H&M legt im Augenblick viel Wert auf völlige Flexibilität in allen Mietverträgen“, berichtet Marx. „In jedem Jahresbericht wird gegenüber den Aktionären betont, dass H&M sich jährlich von einer Vielzahl der Filialen durch die flexiblen Mietverträge trennen kann.“

Nachmieter bereits gefunden

Der Markt für den Textileinzelhandel habe sich weltweit dramatisch verschlechtert. „Der Gewinn ist 2019/2020 um 91 Prozent eingebrochen“, führt er weiter aus. Die Gewinn-Marge der H&M-Group sei auf 1,3 Prozent gesunken. „Als wir 2009 gemeinsam gestartet sind, lag die Marge der Gruppe noch deutlich im zweistelligen Bereich.“ Das Unternehmen schließe derzeit weltweit mehr Filialen, als dass neue eröffnet würden. „Hinzu kommt, dass H&M die Umsätze vom stationären in den Online-Handel verschiebt“, erklärt Marx. „Das ist im Augenblick die Strategie, die umgesetzt werden soll.“

Ein Nachmieter ist laut Marx jedoch bereits gefunden. „Nahtlos“ habe das Ladenlokal neu vermietet werden können. Einen Namen nennt Gunnar Marx jedoch nicht.

„Einkaufen soll Erlebnis sein“

Buer ist aus seiner Sicht ein guter Standort für den Einzelhandel: „Der Wochenmarkt und der gute Besatz in der Fußgängerzone und in den angrenzenden Straßen tragen sehr zur Attraktivität bei.“ Auch an der Kaufkraft scheitere es nicht. „Nicht ohne Grund eröffnet die dänische Bestseller-Gruppe mit Only bereits den dritten Laden an der Hochstraße“, sagt Marx. „Dafür gibt es nur eine Erklärung: Die bereits bestehenden Läden Vero Moda und Jack & Jones laufen sehr gut.“ Denn ansonsten sei Bestseller derzeit genauso zurückhaltend wie alle anderen in der Branche.

„Einkaufen ist heute mehr als Bedarfsdeckung: es soll ein Erlebnis sein“, führt Gunnar Marx weiter aus. „Wir plädieren seit Jahren für die gleichen Verbesserungen an allen Standorten.“ Durch die Corona-Pandemie und die daraus resultierende Zunahme an Leerständen wache die Politik nun langsam auf und sehe endlich ein, dass Handlungsbedarf bestehe.

Politik ist gefordert

„Ein gesunder Standort braucht zum Beispiel ein gutes gastronomisches Angebot, um für den Kunden attraktiv zu sein“, erläutert Marx. „Die Genehmigung einer Nutzungsänderung auf die Branche Gastronomie ist in Deutschland mit 1.000 bürokratischen Hürden und vielen unnötigen Kosten verbunden.“ Hier sei die Politik gefordert, das Verfahren zu reformieren, um die Ansiedlung von Gastronomen zu vereinfachen.

Das Thema Parken sei ebenfalls wichtig: „Die Kunden sollen nicht von hohen Parkgebühren auf öffentlichen Flächen abgeschreckt und von Politessen verfolgt werden.“ Marx plädiert dafür, die Gebühren zu minimieren und ab 16 Uhr komplett abzuschaffen. „Letzten Endes steht jeder Standort im Wettbewerb mit dem Online-Handel und mit Shopping-Centern sowie Fachmärkten, bei denen der Kunde umsonst parken kann.“

Doppelte Krise im vergangenen Jahr

Der Pandemie zum Opfer fällt die Buersche Alte Apotheke – am 1. April 1807 eröffnet. Doch nach 204 Jahren ist Anfang April Schluss: Inhaber Gerhard Daniel muss Insolvenz anmelden. Durch Corona seien die Umsätze stetig zurückgegangen, wird Daniel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung zitiert. Es fehle außerdem an Ärzten im direkten Umfeld. Zu wenige Patienten seien die Folge. Durch die Pandemie blieben nun auch Gelegenheitskäufer aus. Eine hohe Steuer-Nachzahlung habe Gerhard Daniel in dieser Zeit bekommen, die er nicht sofort begleichen habe können. „Daraufhin  hat die Amtsapothekerin der Stadt die Schließung verfügt“, wird Daniel weiter zitiert.

Sieht auch die Kundinnen und Kunden in der Pflicht: Angelika Ullrich, Inhaberin des Braut-Ateliers Angelina. Foto: André Przybyl

 

Gleich eine doppelte Krise bringt das vergangene Jahr für das Braut-Atelier Angelina mit sich. Zuerst Corona, dann brennt das Haus an der De-la-Chevallerie-Straße, in dem das Brautmodengeschäft sein Ladenlokal hat. „Die Kleider, das Inventar – der Brand hat mich mindestens 100.000 Euro gekostet“, erklärt Inhaberin Angelika Ullrich. „Und meine Versicherung hat 10.000 Euro gezahlt – bei dem Schaden ist das nichts.“ Hinzu kommt die Pandemie. „In diesem Jahr durften wir bisher drei Wochen öffnen – mehr muss ich nicht sagen.“

„Da kommt einiges zusammen“

Nach dem Brand kommt sie in einem leerstehenden Ladenlokal an der Horster Straße unter. „Das hier ist nur ein Übergangsquartier“, sagt sie. „Nach 30 Jahren an der De-la-Chevallerie-Straße fühlen wir uns dort Zuhause.“ Neben Angelika Ullrich arbeiten noch ihre Tochter Katrin und zwei Angestellte in dem Familienbetrieb. „Meine Schneiderin hat nach 20 Jahren gekündigt“, berichtet Ullrich. „Sie hat den Stress mit dem Brand und Corona nicht ertragen.“

Mittlerweile ist allerdings eine neue Schneiderin gefunden und auch der Umzug an den alten Standort steht an. „Sollte nichts dazwischen kommen, werden wir im Juli wieder an der De-la-Chevallerie-Straße sein.“ Das angestammte Ladenlokal zu modernisieren ist ebenfalls nicht billig. „Ehrlich gesagt, möchte ich die Summe noch gar nicht ausrechnen“, sagt sie. „Die Strahler kosten rund 15.000 Euro, der Boden 6.000 bis 7.000 Euro – da kommt eins zum anderen.“

„Die Mieten müssen runter“

Buer will sie weiterhin die Treue halten. „Die Stadt hat großes Potenzial“, erklärt Ullrich. „Allerdings müssen schnell die Leerstände beseitigt werden.“ Sie plädiert dafür, nicht auf große Filialisten zu setzen, sondern stattdessen den inhabergeführten Einzelhandel zu stärken. „Wir können uns nicht darauf verlassen, dass der nächste Filialist kommt.“ Hier seien die Immobilien-Eigentümer gefragt. „Überall in der Innenstadt sind die ersten Etagen leer“, sagt sie. „Das ist doch irre.“ Ihrer Meinung nach hat das eine einfache Erklärung: „Die Mieter im Erdgeschoss zahlen eine derart hohe Miete, dass es den Vermietern egal ist, wenn der Rest des Hauses leer steht.“

Solche Preise hätten die Filialisten befördert. Deshalb fordert sie: „Die Mieten müssen runter.“ Nur so würden es Einzelhändler noch riskieren, ein Geschäft zu eröffnen. „Die Zeiten, in denen man für 40 Quadratmeter 3.000 Euro verlangen konnte, sind vorbei“, sagt sie. „Ansonsten finden sich bald nur noch Ein-Euro-Shops.“ Lediglich einen Filialisten vermisst sie in Buer. „Es ist sehr schade, dass Sinn & Leffers nicht mehr hier ist“, erklärt Angelika Ullrich. „Das Geschäft hatte ein gutes Sortiment und fachkundiges Personal.“ Doch auch die Kundinnen und Kunden sieht sie in der Plicht. „Online-Handel gut und schön“, sagt sie. „Aber sich zunächst die Beratung im Geschäft zu gönnen, um dann die Ware im Internet zu bestellen… – das ist unterirdisch.“ Wenn das so weitergehe, würden die Innenstädte überflüssig.

André Przybyl