E-Scooter „ideal, um abzufliegen“

E-Scooter gehören mittlerweile zum gewohnten Straßenbild. Doch mit der Zahl der Zweiräder steigt auch die Zahl der Unfälle. Für Hochschulprofessor Dr. Guido Mihatsch sind die Elektro-Roller „ideal, um auf unebenen Wegen abzufliegen“. Aus den Städten verbannen, will er sie trotzdem nicht. 
E-Scooter gehören mittlerweile zum gewohnten Straßenbild. Doch mit der Zahl der Zweiräder steigt auch die Zahl der Unfälle. Für Hochschulprofessor Dr. Guido Mihatsch sind die Elektro-Roller „ideal, um auf unebenen Wegen abzufliegen“. Aus den Städten verbannen, will er sie trotzdem nicht.

„Wildes Parken“: Zwei Roller stehen auf dem Goldbergplatz in Buer. Foto: André Przybyl

Im Jahr 2019 haben sie die Straßenzulassung erhalten, mittlerweile gehören Elektro-Roller gerade in Großstädten zum gewohnten Straßenbild. Laut einer Umfrage des Automobilclubs ADAC vom Juli 2022 nutzen rund 15 Prozent der Bundesbürger ab 16 Jahren einen E-Scooter – 45 Prozent davon besitzen einen eigenen Roller, 55 Prozent leihen sich das Fahrzeug bei gewerblichen Anbietern. Gleichzeitig steigt die Zahl der Unfälle – und der Ärger über abgestellte Roller mitten auf dem Gehweg.

Seit 2019 können sich Gelsenkirchener die Roller bei diversen Anbietern leihen. „Der erste Verleiher bot damals 350 Scooter an“, erklärt Matthias Schneider, Mobilitätsmanager der Stadt. In den Jahren 2020 und 2021 sei die Zahl rasant gestiegen. „Vier neue Anbieter mit jeweils 350 Fahrzeugen sind in diesem Zeitraum dazugekommen“, berichtet Schneider. „Teilweise waren mehr als 1.700 Roller in der Stadt unterwegs.“ Drei Verleiher haben sich nun wieder aus Gelsenkirchen zurückgezogen. Die übrigen zwei böten zurzeit rund 700 E-Scooter an. „Über die Gründe für den Rückzug haben uns die Anbieter nicht informiert“, erklärt Schneider.

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Kunden verteilen sich auf weniger Anbieter

Durchschnittlich werde in Gelsenkirchen jeder Roller ein Mal pro Tag genutzt. „Zurzeit fahren die Nutzer jeden E-Scooter 1,7 Mal täglich“, berichtet Schneider. „Der Anstieg ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass sich die Kunden auf weniger Anbieter verteilen.“ Das derzeitige Angebot gelte es zu halten. „Es lohnt sich nicht mehr, wenn irgendwann nur noch 300 Fahrzeuge in der Stadt zur Verfügung stehen“, sagt der Mobilitätsmanager.

Die Verträge zwischen Stadt und Anbietern liefen jeweils für ein Jahr. „Das macht es schwierig, für die Zukunft zu planen“, kritisiert Schneider. „Denn die Verleiher informieren uns nur kurzfristig darüber, wenn sie sich aus Gelsenkirchen zurückziehen.“ Andere Städte schrieben den Verleih von E-Scootern öffentlich aus. „Wir überlegen derzeit, ob das auch für Gelsenkirchen eine Möglichkeit sein könnte, um mehr Planungssicherheit zu erhalten“, führt er weiter aus. „Doch erstmal wollen wir mit den zwei verbliebenen Anbietern sprechen.“ 

Zahl der E-Scooter-Unfälle gestiegen

Je mehr Roller auf den Straßen unterwegs sind, desto mehr Unfälle bauen die Fahrerinnen und Fahrer – das geht aus der Verkehrsunfall-Statistik der Gelsenkirchener Polizei hervor: Erstmals flossen Unfälle unter Beteiligung der Elektro-Roller im Jahr 2020 in die Erhebung ein – seinerzeit mit zwei Unfällen, bei denen auch Menschen verunglückten. Ein Jahr später registrierte die Polizei bereits 42 Unfälle. Bei 36 davon kamen Menschen zu Schaden. Im Jahr 2022 stieg die Zahl erneut sprunghaft an: auf 65 – bei 52 davon verunglückten Menschen.

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Unfallursache Nummer eins ist nach Angaben der Behörde die „verbotswidrige Benutzung der Fahrbahn oder anderer Straßenteile“. Dass Scooter-Fahrer die Vorfahrt nicht beachten, alkoholisiert fahren sowie Fehler beim Abbiegen machen, habe ebenfalls zu mehreren Unfällen geführt. „Bei sechs Verkehrsunfällen waren die Fahrerinnen oder der Fahrer alkoholisiert“, erklärt Polizei-Pressesprecherin Merle Mokwa schriftlich auf Anfrage von Hallo Buer. „In drei Fällen standen sie unter dem Einfluss berauschender Mittel.“

Unfälle nehmen deutschlandweit zu

Neun Mal registrierte die Polizei sogenannte Alleinunfälle. Dabei verunglücken die Fahrer, ohne dass andere Verkehrsteilnehmer beteiligt sind. „Davon standen die Fahrerinnen oder der Fahrer in fünf Fällen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss“, berichtet Mokwa. Die Tageszeit spielt in Gelsenkirchen der Polizei zufolge eine untergeordnete Rolle: Die meisten Verkehrsunfälle ereignen sich laut Behörde zwischen 14 und 16 Uhr. „Aber auch morgens um 6 oder abends um 23 Uhr ist ein leichter Anstieg erkennbar“, erklärt die Pressesprecherin.

Deutschlandweit haben die Unfälle ebenfalls zugenommen: Die Polizei registrierte laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 insgesamt 8.260 E-Scooter-Unfälle mit Personenschaden – das waren 49 Prozent mehr als im Jahr zuvor (5.535 Unfälle). Dabei kamen insgesamt elf Menschen ums Leben; 2021 waren es noch fünf Todesopfer. 1.234 Menschen wurden 2022 schwer und 7.651 leicht verletzt. Mehr als 80 Prozent der Verunglückten waren selbst mit dem E-Scooter unterwegs, darunter auch zehn der elf Todesopfer. Die meisten E-Scooter-Unfälle mit Personenschaden gab es der Erhebung zufolge in Nordrhein-Westfalen (2.312). In der Statistik nicht enthalten sind Unfälle, die durch unachtsam abgestellte E-Scooter verursacht wurden.

Mobilitätsmanager würde Helmpflicht begrüßen

Mobilitätsmanager Matthias Schneider würde eine Helmpflicht für Elektro-Roller begrüßen. „Doch die gibt es in Deutschland nicht“, sagt er. „Hier ist der Gesetzgeber gefordert.“ Die Verleiher würden ihre Flotten laufend modernisieren. Zahlen für das vergangene Jahr liegen ihm zwar nicht vor. „Aber im Jahr 2021 entfiel die Hälfte der E-Scooter-Unfälle auf private Fahrzeuge.“ Schneider glaubt, dass die Zahl der privaten Elektro-Roller immer weiter wachse. An konkreten Zahlen könne er das allerdings nicht festmachen. „Aber zeitweise gab es E-Scooter sogar bei Discountern zum Schleuderpreis.“

Im Jahr 2019 hat Prof. Dr. Guido Mihatsch vom Fachbereich Wirtschaftsingenieurwesen der Westfälischen Hochschule gemeinsam mit Studenten die Gefährte auf ihre Sicherheit getestet. Mihatsch ist Maschinenbauingenieur und hat zehn Jahre in der Automobilindustrie gearbeitet. Seit 2004 lehrt er an der Hochschule.

E-Scooter-Test mit vernichtenden Ergebnissen

„Ich habe einen zweiten Wohnsitz in Barcelona, wo die Roller schon zum Straßenbild gehörten, bevor sie nach Deutschland gekommen sind“, berichtet er. „Uns hat interessiert, wie sich die Gefährte in der Praxis verhalten.“ Mit einem handelsüblichen Modell ging es zum ADAC-Verkehrsübungsplatz in Recklinghausen, wo der Scooter gegen ein Fahrrad mit Elektroantrieb, ein sogenanntes Pedelec, antrat. Mihatsch und seine Studenten testeten die Zweiräder auf ihr Brems- sowie Hindernisverhalten und ihre Manövrier-Fähigkeit – mit vernichtenden Ergebnissen für den E-Scooter.

Im Slalom-Versuch stellten Mihatsch und seine Mitstreiter Pylone im Abstand von drei Metern auf. Bei zehn und 15 Stundenkilometern schnitt der Scooter noch recht gut ab, wenn der Fahrer geübt ist. Bei 20 Stundenkilometern flogen dann die ersten Hütchen, während sich das E-Fahrrad noch gut durch den Parcours schlängelte. Ähnlich sah es bei dem Versuch aus, einem quer stehenden Hindernis auszuweichen. „Bei 20 Stundenkilometern wird das Ausweichmanöver grenzwertig“, erklärt Mihatsch. „Wenn also jemand mit dieser Geschwindigkeit auf seinem E-Scooter auf dem Radweg unterwegs ist und ein Fußgänger plötzlich quer läuft, rauscht der Roller in den Fußgänger hinein.“

Vier Mal so langer Bremsweg wie Pedelec

Am deutlichsten verlor der Scooter gegen das Fahrrad beim Bremsversuch. Hier hatte der Roller einen rund vier Mal so langen Bremsweg wie das Pedelec. Dadurch seien mehr Unfälle auf Radwegen zu erwarten – besonders, wenn diese mit dem Fußweg auf Bürgersteigen kombiniert seien, lautete  das Fazit. Für den Betrieb auf Landstraßen ohne Radwege sei der Roller durch die kleinen Räder zu instabil und damit gänzlich ungeeignet.

Mittlerweile seien die E-Scooter zwar schwerer und hätten bessere Bremsen als das Versuchsmodell. Viele Modelle seien außerdem mit einem Blinker ausgestattet, was ebenfalls die Sicherheit erhöhe. „An der Fahrphysik hat sich jedoch nichts geändert“, erklärt Guido Mihatsch. „Der hohe Schwerpunkt und die nahe beieinander liegenden Reifen machen die Roller instabil.“ Der E-Scooter bleibe ein „gefährliches Fahrzeug – ideal, um auf unebenen Wegen abzufliegen“.

Ältere Menschen sollten die Roller meiden

Daran würde sich auch nichts ändern, wenn die Scooter bessere Bremsen bekämen. „Schon jetzt muss der Fahrer geübt sein, um bei einer Vollbremsung nicht über den Lenker zu gehen“, sagt Mihatsch. „Bei einer stärkeren Bremsleistung wären Unfälle vorprogrammiert.“ Er rät älteren Menschen, die Roller zu meiden. „Unser Versuchsmodell war beispielsweise für Fahrer bis 50 Jahre empfohlen“, berichtet Mihatsch. „Jüngere stecken Stürze einfach besser weg als Ältere – das sehe ich auch an meinem Sohn.“

Trotz aller Sicherheitsbedenken möchte Mihatsch die Gefährte nicht aus den Städten verbannen, wie es jüngst in Paris geschehen ist. „Soweit sollte es bei uns nicht kommen.“ Die E-Scooter seien eine gute Ergänzung zum Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und vielerorts bereits in diesen eingebunden – zum Beispiel, um von einem Parkplatz zur Bushaltestelle oder zum Bahnhof zu gelangen.

Professor: „Städte müssen Radwege sicherer machen“

Die Städte sieht Guido Mihatsch in der Pflicht, die Radwege auszubauen und sie sicherer zu machen. „Diese sind insgesamt in einem schlechten Zustand und somit für Scooter völlig ungeeignet.“ Auch müssten die Kommunen dafür sorgen, dass die Roller nicht wahllos abgestellt würden. „Denn so werden sie zu einem Sicherheitsrisiko für andere Verkehrsteilnehmer.“

Matthias Schneider hat festgestellt, dass es zwar Unmut über das „wilde Parken“ gebe. „Konkrete Beschwerden jedoch nicht“, sagt er. „Im vergangenen Jahr hat das Ordnungsamt gerade mal eine Handvoll Hinweise erhalten.“ Die Anbieter seien verpflichtet, Roller augenblicklich zu entfernen, wenn diese „verkehrsgefährdend“ parken. „Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Scooter quer auf dem Gehweg steht, sodass Passanten darüber stolpern könnten.“ Fälle können der Stadt oder direkt den Anbietern gemeldet werden.

Folgenschwerer Unfall in Gelsenkirchen-Erle

Das funktioniert jedoch nicht immer: Im April dieses Jahres ereignete sich ein folgenschwerer Unfall in Gelsenkirchen-Erle, weil ein E-Scooter falsch abgestellt war. Laut Polizei stürzte ein 59-jähriger Gelsenkirchener mit seinem Fahrrad auf der Adenauerallee über das herumliegende Gefährt. Dabei verletzte sich der Mann so schwer, dass er wenig später im Krankenhaus verstarb.                 

Um dem Problem Herr zu werden, hat die Stadt im vergangenen Jahr zwei Abstellzonen am Neustadtplatz und am Musiktheater im Revier eingerichtet. „Die Station am Neustadtplatz hat dazu geführt, dass weniger Roller im Umfeld abgestellt werden“, berichtet Schneider. Das Musiktheater sei als Ausleihe gefragt. Er räumt  ein, dass zwei Zonen nur ein unvollständiges Bild zeichneten. „Um das Parken stärker zu steuern, müssten wir großflächig Abstellzonen, aber auch Verbotszonen ausweisen“, sagt Schneider. „Doch dafür brauchen wir die Verlässlichkeit der Anbieter.“ In Buer plane die Stadt derzeit keine Abstellzonen. Hier sieht Matthias Schneider keinen Bedarf.

André Przybyl