Klimaaktivistin: „Ich komme bestimmt ins Gefängnis“

Klimaaktivistin: „Ich komme bestimmt ins Gefängnis“

„Ich komme bestimmt ins Gefängnis“, sagt Lina Eichler, Klimaaktivistin bei der „Letzten Generation“. „Darauf habe ich zwar keine Lust – aber wenn es unserer Sache dient, ist das ok.“ Was sie antreibt und was sie mit ihrem Protest erreicht haben – Eichler und weitere Aktivistinnen sowie Aktivisten berichten.
„Ich komme bestimmt ins Gefängnis“, sagt Lina Eichler, Klimaaktivistin bei der „Letzten Generation“. „Darauf habe ich zwar keine Lust – aber wenn es unserer Sache dient, ist das ok.“ Was sie antreibt und was sie mit ihrem Protest erreicht haben – Eichler und weitere Aktivistinnen sowie Aktivisten berichten.

„Letzte Generation“: Lina Eichler bei einer Aktion in Essen. Foto: André Przybyl

Sie hungert sich ins Krankenhaus, klebt sich auf Straßen fest und schreckt auch vor rechtlichen Konsequenzen nicht zurück: „Ich werde bestimmt ins Gefängnis kommen“, sagt Lina Eichler. „Darauf habe ich zwar keine Lust – aber wenn es unserer Sache dient, ist das ok.“ Lina Eichler ist 20 Jahre alt und Klimaaktivistin bei der „Letzten Generation“.

„Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, sagt UN-Generalsekretär António Guterres auf der jüngsten Weltklimakonferenz in Ägypten. „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren.“ Gegen diese Entwicklung stemmen sich Klimaaktivisten. Protestbewegungen wie „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“ und die „Letzte Generation“ eint das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Bei der Wahl ihrer Mittel sind sie jedoch verschieden: Während „Fridays for Future“ auf die Straße geht, blockiert die „Letzte Generation“ jene und setzt „Extinction Rebellion“ auf „kreative Aktionen“.

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Klimaaktivist: „Müssen Ungerechtigkeit bekämpfen“

Thanh Nhi Nguyen hat Angst vor der Zukunft. „Vor kurzem hatte ich einen kleinen Nervenzusammenbruch“, erzählt sie. „Wie ich sind zurzeit viele Aktivisten verzweifelt und haben das Gefühl, etwas machen zu müssen.“ Schon jetzt stürben Menschen durch den Klimawandel, fügt Jan Bretinger hinzu. „Studien zufolge werden bis 2050 Milliarden Menschen in Gebieten leben, die durch den Klimawandel unbewohnbar werden – durch Wassermangel, Waldbrände und Überschwemmungen.“ Gleichzeitig gebe es Konzerne, die mit der Umweltverschmutzung Profite machten. „Diese Ungerechtigkeit müssen wir bekämpfen.“

Thanh Nhi Nguyen ist 22 Jahre alt. An der Hochschule Bochum studiert sie Nachhaltige Entwicklung. Jan Bretinger ist 20 Jahre alt. Er studiert Meeresbiologie an der Universität Duisburg-Essen. Beide wohnen in Gelsenkirchen und engagieren sich bei der hiesigen Ortsgruppe von „Fridays for Future“ für den Klimaschutz.

Rund 800 Menschen gehen in Gelsenkirchen auf die Straße

Die Gelsenkirchener Ortsgruppe wird im März 2019 gegründet. Zurzeit gehörten ihr zehn aktive Mitglieder an – Schüler und Studenten zwischen 15 und 24 Jahren. „Der harte Kern der Gruppen besteht zumeist nur aus einer Handvoll Leuten“, berichtet Jan Bretinger. „Bei den Demos unterstützen uns dann weitaus mehr.“ Zum „Klimastreik“ im September dieses Jahres demonstrieren in Buer rund 100 Menschen. „Bei der größten Demo, die wir organisiert haben, sind im September 2019 rund 800 Menschen in Gelsenkirchen auf die Straße gegangen.“

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Seit der Grundschule engagiere sich Bretinger für die Umwelt. „Später war ich bei einer Organisation, die Aktionen gegen den Klimawandel gemacht hat“, erinnert er sich. „Wir haben zum Beispiel Bäume gepflanzt und einen Workshop mit Jugendlichen veranstaltet.“ Als „Fridays for Future“ Anfang 2019 seine ersten Demonstrationen in Deutschland durchführt, nimmt er daran teil – und bleibt.

Klimaaktivistin: „Auch Einzelner kann etwas bewegen“

Ein Jahr später stößt Thanh Nhi Nguyen zur Gelsenkirchener Ortsgruppe. „Nach meinem Abitur hatte ich Zeit, die ich sinnvoll nutzen wollte.“ Schon zuvor habe sie sich für den Klimaschutz interessiert. „Ich bin aber nie aktiv geworden“, berichtet sie. „Meine Freunde hatten daran kein Interesse und meine Eltern konnten mich nicht unterstützen.“ Im September 2020 besucht sie eine Demo. „Da habe ich gemerkt, dass man auch als Einzelner etwas bewegen kann.“

Corona habe der Bewegung einen Dämpfer verpasst. „Die wöchentlichen Demos machen wir seit 2019 nicht mehr“, sagt Jan Bretinger. „Mittlerweile rufen wir zu weltweiten ‚Klimastreiks‘ auf, die zwei Mal im Jahr stattfinden.“ Bei manchen Themen hätte sich bei den Aktivisten eine gewisse Resignation eingestellt. „Mit klassischen Demos kommen wir nicht mehr weiter“, erklärt er. „Es ist uns gelungen, den Klimawandel ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.“ Doch ginge es darum, konkrete Maßnahmen umzusetzen, sei auf die Straße zu gehen nicht genug.

Multiple Krisen verdrängen Klimawandel

Hinzu kämen die multiplen Krisen. „Durch den Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Inflation ist der Klimawandel in den Köpfen nicht mehr so präsent“, mutmaßt Thanh Nhi Nguyen. „Die Leute haben gerade andere Probleme und sagen sich, dass der Klimawandel ja ohnehin erst in der Zukunft relevant werde.“

Bretinger räumt ein, „dass wir bei dem Thema ein wenig verloren haben“. „Bis auf die ganz harten Leugner stellen sich zurzeit alle Politiker als große Klimaschützer dar“, sagt er. „Bei all jenen, die sich nicht näher mit der Thematik beschäftigen, entsteht dadurch der Eindruck, dass sich die Politik für den Klimaschutz stark macht – und demonstrieren gar nicht mehr so wichtig ist.“ Er sieht das anders: „Seit den Protesten 2019 hat sich kaum etwas substantiell verändert.“ Das „Klimapaket“, das die Bundesregierung Ende 2019 beschlossen hat, ist für ihn eine Farce. „Darin sind lange nicht genug Maßnahmen enthalten, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken.“

„Fridays for Future“ in Lokalpolitik aktiv

Zunehmend konzentriere sich die Ortsgruppe auf Gelsenkirchener Themen: „2021 haben wir dagegen demonstriert, dass das Kraftwerk in Scholven über Jahrzehnte weiterbetrieben werden soll.“ In der Lokalpolitik ist die Gruppe ebenfalls aktiv. „Wir haben uns zum Beispiel dafür eingesetzt, dass Gelsenkirchen den Klimanotstand ausruft“, berichtet Bretinger. „Auch wenn unser Entwurf letztendlich entschärft wurde – an der Ausformulierung waren wir beteiligt.“ Seitdem ist die Gruppe im Klimabeirat vertreten, der die Entwicklung eines Klimakonzeptes für die Stadt begleitet hat. Am 12. Dezember hat die Stadt das Konzept vorgestellt. „Es ist gut, dass jetzt ein Konzept vorliegt und die Stadtverwaltung neue Stellen schaffen will, um die Pläne voranzutreiben.“ Die Maßnahmen würden jedoch bei weitem nicht ausreichen.

„Ich komme bestimmt ins Gefängnis“, sagt Lina Eichler, Klimaaktivistin bei der „Letzten Generation“. „Darauf habe ich zwar keine Lust – aber wenn es unserer Sache dient, ist das ok.“ Was sie antreibt und was sie mit ihrem Protest erreicht haben – Eichler und weitere Aktivistinnen sowie Aktivisten berichten.

„Fridays for Future“: Thanh Nhi Nguyen und Jan Bretinger. Foto: André Przybyl

„Mit gemischtem Erfolg“ habe „Fridays for Future“ Bürgeranregungen gemacht. „Durchsetzen konnten wir, dass an den Schulen eine vegane Mahlzeit auf den Speiseplan kommt“, sagt Bretinger. „Andere Vorschläge wurden rigoros von der Politik abgeschmettert.“ Während der Pandemie wollen die Aktivisten auf temporäre Radwege setzen, um dem florierenden Radverkehr Rechnung zu tragen. „Nach über einem halben Jahr Beratungszeit wurde der Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, die Stadt wolle lieber richtige Radwege bauen“, erzählt er. „Dabei schließt sich beides nicht aus – jetzt gehen wieder Jahre ins Land, bis die Radwege fertig sind.“

Aktivist steht Aktionen der „Letzten Generation“ zwiespältig gegenüber

Zwiespältig steht Jan Bretinger den Aktionen der „Letzten Generation“ gegenüber: „‚Ziviler Ungehorsam‘ ist ein wichtiges Mittel des Protests“, sagt er. „Aber ich finde, es gelingt ihnen zumeist nicht, ihre Botschaft rüberzubringen.“ Mit ihrer Aussage und Motivation hätten die Aktivisten allerdings „total recht“. „Was viele Menschen vergessen haben: Als wir 2019 anfingen zu protestieren, haben viele Politiker gesagt: ‚Die Schulschwänzer wissen doch gar nicht, was sie da machen’“, erzählt er. „Heute erklären die gleichen Politiker, dass die ‚Letzte Generation’ das kaputt mache, was ‚Fridays for Future’ aufgebaut habe.“

Anders als „Fridays for Future“ setzt „Extinction Rebellion“ (XR) – „Aufstand gegen das Aussterben“ – auf „Zivilen Ungehorsam“, bricht bewusst Regeln und Gesetze. „Wir möchten eigentlich nur, dass sich die Regierung an das Pariser Klima-Abkommen, an ihr eigenes Versprechen und an die Verfassung hält“, sagt Aktivistin Karla A.* (die Aktivistin möchte nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden, da sie hierdurch berufliche Nachteile fürchtet) von der Essener Ortsgruppe. „Das Bundesverfassungsgericht hat ja entschieden, dass das Klimaschutzgesetz in Teilen verfassungswidrig ist.“ Im März 2021 urteilt das höchste deutsche Gericht, dass das Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019 nicht gänzlich mit den Grundrechten vereinbar sei. Es fehlten ausreichende Vorgaben für die Minderung der Emissionen ab dem Jahr 2031, erklären seinerzeit die Richter. A.*, bei XR „Anton“ genannt, ist Software-Entwicklerin. Sie ist 47 Jahre alt. Ottmar Wolf ist  ebenfalls bei „Extinction Rebellion“ in Essen aktiv. Er ist 63. Der studierte Physiker arbeitet als IT-Berater.

Klimaaktivistin: „Habe gemerkt, wie schlimm Situation ist“

„Mit ungefähr zwölf Jahren habe ich die Reportage ‚Der Ast, auf dem wir sitzen …‘ gesehen“, erinnert sich Karla A.*. „Schon damals wies Autor Hoimar von Ditfurth auf den drohenden Klimawandel hin.“ Aufgrund der Demonstrationen von „Fridays for Future“ setzt sie sich Jahrzehnte später näher mit dem Thema auseinander. „Da habe ich gemerkt, wie schlimm die Situation wirklich ist …“ Für sie der Auslöser, sich bei XR zu engagieren.

„Ich setze mich schon seit den 1970er-Jahren für den Wandel ein“, sagt Ottmar Wolf. Er engagiert sich zunächst in seinem privaten Umfeld. „Damit habe ich mir schon während meines Studiums keine Freunde gemacht.“ Mit Greenpeace kann er nichts anfangen, bei „Sea Shepherd“ möchte er gerne mitmachen – „doch ich habe mich zu alt gefühlt“. „Mit ‚Extinction Rebellion’ konnte ich mich dann identifizieren“, erzählt er. „Das ist die Organisation, die meinen Idealen am nächsten kommt.“

Aktivisten hüllen sich in „Leichentücher“

Im Frühjahr 2019 gründen Klimaaktivisten die Essener Ortsgruppe von XR. Ottmar Wolf ist von Anfang an dabei. „Ich bin im November desselben Jahres dazu gestoßen“, sagt Karla A.*. Rund 20 Mitglieder habe die Gruppe derzeit.

Im Unterschied zur „Letzten Generation“ setze XR bei ihren Aktionen auf Kreativität. „Wir blockieren nicht nur die Straße und halten ein Banner hoch, sondern versuchen, etwas mehr daraus zu machen“, erklärt Ottmar Wolf. Diverse Aktionen führt die Gruppe in Essen und ganz Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahren durch. „Einmal haben wir uns in ‚Leichentücher‘ gehüllt und in die Essener Fußgängerzone gelegt“, erzählt Karla A.*. Zu Füßen der Liegenden weisen Schilder auf die vermeintliche Todesursache hin: „Tod durch Hitze“ oder „Tod durch Flutkatastrophe“ ist darauf zu lesen. Derweil halten andere Aktivisten ein Banner mit der Aufschrift „Klimakrise = Massenmord“ hoch. Zum Black Friday protestiert XR regelmäßig gegen den Konsum. „Im Einkaufszentrum Limbecker Platz haben wir ‚Geldscheine‘ rieseln lassen“, fährt Karla A.* fort. „Das gibt immer ein tolles Bild.“

Rollen der Aktivisten klar verteilt

Die Rollen der an einer Aktion Beteiligten sind klar verteilt: „Einige Aktivisten verwickeln beispielsweise Passanten in ein Gespräch oder verteilen Flyer“, erklärt Wolf. Andere wiederum würden sich um die „Rebellen“ kümmern, die an der Aktion selbst beteiligt sind, sie mit Nahrung und Getränken versorgen. „Da wir keine Versammlungsleiter haben, sprechen wiederum andere Aktivisten mit der Polizei.“ Intern werde dann diskutiert, welche Zugeständnisse die Gruppen den Ordnungshütern machen wolle.

Die Reaktion der Passanten sei unterschiedlich. „Da bekommen wir das gesamte Spektrum mit“, erklärt Wolf. „Von ‚Geh doch mal arbeiten‘ bis ‚Toll, dass ihr das für uns macht‘.“ Die Mehrheit würde sich zurzeit verschieben: „Immer mehr Leute befürworten unsere Aktionen“, glaubt er. Bei Straßenblockaden könne Karla A.* die Meinung der Autofahrer mittlerweile am Hupen erkennen: „Der eine Ton sagt uns ‚verpisst euch‘, der andere ‚coole Sache‘.“

Verhältnis zu „Team Blau“ gespalten

Die Gruppe tausche sich regelmäßig zu rechtlichen Fragen aus. „Wir haben ein ‚Legal Team‘, das sich ausschließlich mit gesetzlichen Aspekten auseinandersetzt“, berichtet Ottmar Wolf. Vor jeder Aktion werde abgeklärt, was rechtlich auf die Aktivisten zukommen könne und wie sich Konsequenzen verhindern ließen. Das Verhältnis zu „Team Blau“, wie Wolf die Polizei nennt, sei gespalten. „Eigentlich kommen wir gut miteinander aus“, sagt Karla A.* Ottmar Wolf schüttelt den Kopf: „Bei mir nicht.“ Er habe nette, allerdings auch rabiate Polizisten erlebt.

„Bei den Aktionen filme ich zumeist nur und mache Fotos“, berichtet Karla A.* Anders Ottmar Wolf: „Ich wurde schon mal festgenommen“, erzählt er. „Bisher wurden nur meine Personalien aufgenommen und meine Identität festgestellt – in den Knast musste ich nicht.“ Eine Straßenblockade der B1 in Dortmund hat jedoch weitreichendere Folgen: „Ich wurde wegen Nötigung angeklagt und zu 40 Tagessätzen verurteilt.“ Das Urteil sei nicht rechtskräftig, da Wolf Berufung eingelegt habe. „Das Verfahren läuft derzeit.“

Solidarisch mit „Letzter Generation“

Mit der „Letzten Generation“ und ihren Zielen sei „Extinction Rebellion“ solidarisch. „Die sind sehr effektiv“, meint Karla A.*. „Im Gegensatz zu uns sind sie zentral organisiert.“ Der Kontakt beider Gruppen sei eng. „Die beiden Gründer der ‚Letzten Generation‘ kommen von ‚Extinction Rebellion‘“, führt Wolf näher aus. Auch würde die Bewegung viele ihrer Mitglieder aus den Reihen von XR rekrutieren.

„Ich komme bestimmt ins Gefängnis“, sagt Lina Eichler, Klimaaktivistin bei der „Letzten Generation“. „Darauf habe ich zwar keine Lust – aber wenn es unserer Sache dient, ist das ok.“ Was sie antreibt und was sie mit ihrem Protest erreicht haben – Eichler und weitere Aktivistinnen sowie Aktivisten berichten. Extinction Rebellion“: Annette Ilgen und Ottmar Wolf. Foto: André Przybyl

„Extinction Rebellion“: Karla A.*und Ottmar Wolf. -Foto: André Przybyl

„Vom Gefühl her würde ich mich sofort auf die Straße kleben“, erklärt Karla A.*. Doch sie schreckten die möglichen Strafen ab. Für Ottmar Wolf markierten die selbsterklärten Prinzipien von XR die Grenze: „Alle Aktionen müssen friedlich und gewaltfrei sein“, sagt er. „Einfach auf die Straße würde ich mich nicht kleben – an den Eingang von RWE allerdings schon, das ist ein starkes Statement.“

Klimaaktivist: „Massive Präsenz hat Thema in Vordergrund gebracht“

Wolf glaubt, dass der Einsatz der Aktivisten Früchte trägt: „Die massive Präsenz von ‚Fridays for Future‘, ‚Extinction Rebellion‘ und der ‚Letzten Generation‘ hat das Thema in den Vordergrund gebracht.“ Inzwischen seien sich mehr Menschen als noch vor den Protesten der Problematik bewusst. „Ich habe allerdings den Verdacht, dass die meisten nicht wissen, wie schlimm es wirklich ist“, sagt Karla A.*.

Die Bilanz ihres Protests fällt dennoch ernüchternd aus: „Die letzten 40 Jahre haben weniger als nichts gebracht“, erklärt Wolf. „Das hat der langjährige Geschäftsführer von Greenpeace Thilo Bode gesagt.“ Die CO2-Emissionen gingen durch die Decke. „Das ist genau der Punkt, an dem ich die ‚Letzte Generation‘ verstehen kann“, fährt er fort. „In den 1970er-Jahren hätten wir ohne große Schwierigkeiten umdenken können – doch diese Chance haben wir verpasst.“ Jetzt helfe nur noch radikales Umsteuern. „Und das bedeutet für jeden von uns Verzicht.“

Klimaaktivistin: „Müssen massiv Druck aufbauen“

Weiter als „Extinction Rebellion“ geht die „Letzte Generation“: Die Aktivistinnen und Aktivisten kleben sich auf Straßen fest, schütten Dosensuppe auf Gemälde und haben den Betrieb auf den Flughäfen in Berlin und München teilweise zum Erliegen gebracht. Eine von ihnen ist Lina Eichler.

„Wir sind an einem Punkt, an dem wir nicht mehr weggucken und ab und an gemütliche Aktionen machen können“, sagt sie. „Wir müssen massiv Druck aufbauen, um das Ruder noch rumzureißen – und das versuchen wir täglich mit unberechenbaren Blockaden.“ Wenn es einen Wurf Kartoffelbrei auf ein Gemälde brauche, damit die Leute zuhörten und realisierten, wie katastrophal die Lage sei – „dann machen wir das“, erklärt sie. „Abgesehen davon haben wir immer nur Bilder ausgewählt, die hinter einer Glasscheibe geschützt waren.“

Für Klimaschutz Abitur abgebrochen

Lina Eichler wird in Dortmund geboren und wächst in Lünen auf. Im Jahr 2018 steigt sie in den Aktivismus ein: „Zunächst habe ich mich den Tierrechten gewidmet“, erzählt sie. „Im Sommer 2020 bin ich dann auf ‚Extinction Rebellion‘ gestoßen und habe in Dortmund und Berlin an viele Aktionen teilgenommen.“ Für den Klimaschutz bricht sie ihr Abitur ab und zieht nach Greifswald, etwa 230 Kilometer von der Bundeshauptstadt entfernt.

Vor dem Berliner Reichstag tritt sie am 30. August 2021 gemeinsam mit sechs weiteren Aktivistinnen und Aktivisten in den Hungerstreik. Ihre Forderungen: Zum einen sollen die damaligen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz (SPD) und Armin Laschet (CDU) sowie Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (Grüne) mit ihnen noch vor der Bundestagswahl öffentlich über den Klimawandel sprechen. Zum anderen soll die Bundesregierung einen Bürgerrat einsetzen, der der Politik sofortige Maßnahmen zum Klimaschutz vorgibt. Baerbock, Laschet und Scholz bieten an, nach der Wahl mit den Aktivisten zu sprechen – jedoch nicht öffentlich.

Nach 20 Tagen Hungerstreik ins Krankenhaus

„Nach 20 Tagen bin ich umgefallen, ins Krankenhaus gekommen und habe dann entschieden, den Hungerstreik zu beenden“, erinnert sich Lina Eichler. Nachdem zwei noch verbliebene Aktivisten auch verweigern zu trinken, verspricht Scholz, sich innerhalb von vier Wochen nach der Wahl mit den Aktivisten öffentlich zu treffen. Am 12. November löst der seinerzeit designierte Bundeskanzler sein Versprechen ein. „Das war ein Erfolg, auch wenn das Gespräch enttäuschend verlief“, sagt Eichler. Ein Teil der Streikenden gründet später den „Aufstand der letzten Generation“.

Heute ist Lina Eichler 20 Jahre alt und Vollzeit-Aktivistin. „Zurzeit widme ich mich nichts anderem als unseren Aktionen und den Widerstand mit aufzubauen.“ Ihren Lebensunterhalt bestreite sie durch Spenden. „Wir werden durch Menschen unterstützt, die gut finden, was wir machen.“ Sie habe feste „Sponsoren“, die ihr Wohnung und Lebensmittel finanzierten.

„Letzte Generation“: Polizei durchsucht Wohnungen von Mitgliedern

Am 13. Dezember dieses Jahres führt die Polizei bundesweit Razzien bei Mitgliedern der Bewegung durch. Gegen die Betroffenen werde wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung sowie Störung öffentlicher Betriebe ermittelt, erklärt die Staatsanwaltschaft Neuruppin in Brandenburg. Grund seien mehrere Attacken von Klimaaktivisten auf Anlagen der Raffinerie PCK Schwedt, bei denen teilweise die Ölzufuhr unterbrochen worden sei.

Auch Lina Eichlers Wohnung in Greifswald wird durchsucht. „Es war uns klar, dass das irgendwann passiert“, berichtet sie. „Ich war zu dem Zeitpunkt nicht Zuhause.“ Auch gegen sie ermittelte die Staatsanwaltschaft Neuruppin. „Ich war dabei, als wir eine Pipeline abgedreht haben“, sagt sie. „Dafür musste ich schon für zwei Tage in Polizeigewahrsam.“ Sie glaubt, „dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich ins Gefängnis komme“. „Darauf habe ich zwar keine Lust – aber wenn es unserer Sache dient, ist das ok.“ Für sie seien die Razzien ein Versuch, „uns mundtot zu machen“. Doch das werde nicht gelingen: „Wir werden weiter den Protest auf die Straße tragen.“

Klimaaktivistin: „Gegen mich laufen einige Strafverfahren“

Über rechtliche Konsequenzen ihrer Aktionen mache sie sich durchaus Gedanken. „Gegen mich laufen einige Strafverfahren“, erzählt sie. „Nichts zu tun, um ein reines Führungszeugnis zu behalten, ist für mich jedoch keine Option.“ Sie und ihre Mitstreiter hoffen darauf, dass die Gerichte die Klimakrise als „Rechtfertigenden Notstand“ nach Paragraph 38 des Strafgesetzbuches  anerkennen – „und uns freisprechen“. Bisher ist dieser Fall einmal eingetreten: Das Amtsgericht Flensburg hat einen Baumbesetzer vom Vorwurf des Hausfriedensbruches freigesprochen.

Der Fokus der Bewegung liegt auf Berlin. In München sind die Aktivisten ebenfalls sehr präsent. „Immer mal wieder finden aber auch Aktionen in anderen Teilen Deutschlands statt“, erzählt Lina Eichler. So führt die „Letzte Generation“ am 10. Dezember eine Aktion in Essen durch. Eichler und ein weiterer Aktivist besprühen die Zentrale des Energiekonzerns RWE mit orangener Farbe. Danach breiten sie ein Banner mit der Aufschrift „Was, wenn die Regierung das nicht im Griff hat?“ aus. Nach kurzer Zeit löst die Polizei die Aktion auf, nimmt die Personalien auf und stellt nach eigener Angabe Strafanzeige wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsrecht.

„Letzte Generation“ gründet Gruppen im Ruhrgebiet

Zurzeit gründe die „Letzte Generation“ Gruppen in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets. „Da sind schon einige Leute zusammengekommen.“ Das bedeute jedoch nicht, dass eine Protestwelle auf die Region zurolle. „Es werden immer mal wieder Aktionen im Ruhrgebiet stattfinden“, kündigt Lina Eichler an. „Der Schwerpunkt bleibt aber Berlin.“

Sie habe große Angst vor der Zukunft, um ihre Familie, Freunde und alle Lebewesen auf dem Planeten. „Deshalb ist es an der Zeit, friedlichen zivilen Widerstand zu leisten“, sagt sie. „Auch wenn uns das keinen Spaß macht – wir machen das nicht, weil wir Bock darauf haben, die Leute zu stören.“ Sie könne nachvollziehen, dass viele Menschen von den Aktionen der „Letzten Generation“ genervt seien. „Mir sind Autofahrer schon über den Fuß gefahren, ich wurde angeschrien und geschlagen.“ Doch für sie sei der Protest alternativlos: „Es geht ums Überleben.“ Dafür hungert sich Lina Eichler ins Krankenhaus, klebt sich auf Straßen fest und schreckt auch vor rechtlichen Konsequenzen nicht zurück.

André Przybyl

*die Aktivistin möchte nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden, da sie hierdurch berufliche Nachteile fürchtet