Leibniz-Gymnasium: Corona macht Schule
Leibniz-Gymnasium: Corona macht Schule
Seit rund einem Jahr leitet Michael Scharnowski das Buersche Leibniz-Gymnasium. Ein Jahr, in dem Corona seinen Arbeitsalltag bestimmt.
„Das Schlimmste an der Pandemie ist, dass Kinder als Infektionsrisiko angesehen werden“, sagt Michael Scharnowski. „Das ist entwürdigend für junge Menschen.“ Doch diese Botschaft ist bei den Jugendlichen bereits angekommen: „Wie? Deine Schwester hat Corona? Und Du kommst in die Schule und verseuchst uns?“, hört er in einem Gespräch unter Schülerinnen und Schülern des Leibniz-Gymnasiums. Seit einem Jahr leitet Scharnowski die Schule in Buer. Ein Jahr, in dem Corona seinen Arbeitsalltag bestimmt.
Idealismus gehört zum Beruf
Michael Scharnowski startet seine berufliche Laufbahn in Cottbus. Im Jahr 2000 zieht er nach Buer. „Zunächst war ich hier am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium – kurz AvD – tätig“, erzählt er. Von 2003 bis 2006 absolviert er einen Auslandsschuldienst im irischen Dublin. „Für einen Englischlehrer ist es unabdingbar, Auslandserfahrung zu sammeln“, sagt er. „Dabei habe ich sowohl die Sprache als auch die Kultur besser kennengelernt.“ Im Anschluss wechselt er erneut zum AvD und später zum Sophie-Scholl-Gymnasium nach Oberhausen. „Ich war allerdings bestrebt, wieder nach Buer zu kommen“, erinnert er sich. „Hier fühle ich mich heimisch.“ Die Bemühungen sind von Erfolg gekrönt: Am 29. Juni wird er Schulleiter am Leibniz-Gymnasium. Neben Englisch unterrichtet er Geschichte. „Beide Fächer haben mich zu Beginn meines Studiums am meisten interessiert“, führt er näher aus. „Die englischsprachige Literatur hat mich schon in meiner Schulzeit begeistert.“ In Dublin entdeckte er außerdem seine Liebe zum Theater. „Seitdem mache ich noch Schultheater.“
Zu seinem Beruf gehört für ihn Idealismus. „Aus einem Jugendlichen einen vollständigeren Menschen zu machen und ihm dabei zu helfen, seine Potenziale zu entwickeln – mit dieser Idee kann ich mich zu 100 Prozent identifizieren.“ Dafür brauche es viel Energie und Zeit. „Die zunehmende Digitalisierung und der steigende Medienkonsum machen es nicht einfacher, Jugendliche zu erreichen“, erzählt er. „Die Wege in die Seelen und Köpfe junger Menschen sind länger geworden – doch wenn ich zwei von 28 erreiche, ist das großartig.“
„Extrem schwierig und auch frustrierend“
Ein überraschendes Erlebnis hat er jüngst bei den Schultheater-Tagen in Oberhausen. „Dort haben ehemalige Schüler von mir eine Aufführung in englischer Sprache gezeigt“, erzählt Michael Scharnowski. Auf die Frage, warum sie so gut Englisch könnten, antwortet eine Schülerin: „Inspiriert hat mich, dass Herr Scharnowski immer gesagt hat, man müsse ein Wort 16 Mal aussprechen, um es zu beherrschen.“ Das habe sie für sich übernommen. „Mich hat das berührt“, sagt Scharnowski. „Hinter der halbernst gemeinten Regel steht ja eigentlich die Aussage, dass es ohne Übung nicht geht.“
Sein erstes Jahr als Schulleiter am Leibniz-Gymnasium war für ihn „extrem schwierig und zwischendurch auch frustrierend“. „Natürlich haben wir uns an alle Maßnahmen gehalten“, sagt er. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob es der richtige Weg war, immer wieder den Präsenzunterricht auszusetzen.“
Maßnahmen häufig kurzfristig umsetzen
Außerdem mussten Maßnahmen häufig kurzfristig umgesetzt werden. „Oft habe ich Freitagmittag eine Mail bekommen, in der stand, wie ich am Montag den Schulbetrieb zu organisieren habe.“ Nach „bestem Wissen und Gewissen“ hätten er und seine Kolleginnen und Kollegen versucht, die Vorgaben umzusetzen. Für den Distanzunterricht entwickelte eine Arbeitsgruppe im Kollegium ein Konzept, „das auch ganz gut funktioniert hat“. Per E-Mail wurden wöchentlich Aufgaben verschickt, die im Rahmen einer Video-Konferenz besprochen wurden.
„Doch die Tücke steckt im Detail“, gibt Michael Scharnowski zu bedenken. „Es gab sehr viele Reibungspunkte.“ Lehrerinnen und Lehrer beschwerten sich über die wachsende Belastung. Eltern waren unzufrieden mit der Koordination der Konferenzen. „Aus den verschiedenen Gruppen gab es sowohl konstruktive als auch weniger konstruktive Vorschläge und ich musste vermitteln.“ Das empfand er als sehr anspruchsvoll und kraftraubend.
„Grenze des Erträglichen erreicht“
Eine Herausforderung stellte die Pandemie auch für die Lehrerschaft dar. „Für die Mehrheit war die Grenze des Erträglichen erreicht.“ Die digitalen Arbeiten sowie Hausaufgaben zu korrigieren und den Schülerinnen und Schülern eine Rückmeldung zu geben, sei dermaßen zeitaufwendig gewesen, „dass man nach einigen Monaten kaum mehr Kraft für etwas anderes hat“.
„Relativ unvorbereitet“ hätte die Digitalisierung die Schule mit Beginn der Pandemie getroffen. „Nun sind wir in einem ständigen Prozess, uns besser aufzustellen“, sagt Scharnowski. „Doch das braucht seine Zeit.“ Er glaubt nicht, dass das Heil der Schule in der Digitalisierung liege. „Das Digitale kann den Unterricht ergänzen, aber nicht ersetzen“, erklärt er. „Zur echten Kommunikation im Fremdsprachen-Unterricht gehören zum Beispiel auch Gestik und Mimik.“ In einer Video-Konferenz ließe sich das nicht darstellen. „Außerdem ist digitaler Unterricht so künstlich, dass er die Schülerinnen und Schüler kaum erreicht.“ Die Jugendlichen würden sich dabei häufig bedrängt fühlen. „Nicht jeder hat Zuhause einen schönen Arbeitsplatz“, führt Michael Scharnowski näher aus. „Doch in einer Video-Konferenz wird dieser gnadenlos offengelegt.“ Der klassische Unterricht ließe sich nicht eins zu eins in die digitale Welt übertragen. „Deshalb haben Schulen nicht bereits vor Corona auf die Digitalisierung gesetzt.“
Nachhaltig in ihrer Entwicklung beeinträchtigt
Von der Stadt Gelsenkirchen habe das Leibniz-Gymnasium große Unterstützung erfahren. „Wir haben den Anbieter Iserv erhalten und wurden bei der Nutzung sowie bei technischen Problemen unterstützt“, sagt Scharnowski. Schwieriger gestaltete sich die Entwicklung der alternativen Schulplattform Logineo vom Land Nordrhein-Westfalen. „Diese ist extrem schleppend verlaufen“, berichtet er. „Bis heute verzichten wir darauf, weil viele Funktionen nur eingeschränkt nutzbar sind.“
Sehr schwierig waren die vergangenen Monate auch für die Schülerinnen und Schüler. „Für sie ist ein großer Teil ihres Alltags weggebrochen“, berichtet er. „Es gab viele, die sich konsequent an die Vorgaben und Maßnahmen gehalten haben – und die haben zehn Monate lang Zuhause gesessen und kaum jemanden getroffen.“ Dies habe die Kinder und Jugendlichen nachhaltig in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.
„Es ist viel verloren gegangen“
„In den ersten Tagen des Präsenzunterrichts habe ich Schülerinnen und Schüler gesehen, die im Schulflur weinten“, erzählt er. „Sie waren aufgewühlt, aus dem Gleichgewicht gebracht – und als Erwachsene können wir nur schwer nachvollziehen, wie schwierig diese Zeit für sie war.“ Nun müssten die Kinder und Jugendlichen wieder aufgefangen werden. „Wir sprechen mit ihnen und machen ihnen vermehrt Angebote, in denen sie sich mit uns und ihren Mitschülern austauschen können.“ Zum Beispiel soll eine psychosoziale Sprechstunde nach den Ferien eingerichtet werden, die sich mit dem Thema befasst.
Die schulischen Leistungen haben ebenfalls gelitten. „Wir versuchen zu vermitteln und keine Laufbahnen zu beschädigen, da die Kinder nichts dafür können“, sagt Scharnowski. „Aber in meinem Fach, Englisch, ist viel verloren gegangen.“
„Ein Qualitätsverlust ist jedoch erkennbar“
Bundesweit wehren sich auch einige Schülerinnen und Schüler dagegen, die Abitur-Prüfungen in diesem Jahr wie gewohnt durchzuziehen. „Franziska Schürken, eine ehemalige Schülerin von mir, hat solch eine Petition gestartet“, berichtet er. „Nach eineinhalb Jahren, in denen die Jugendlichen fast nur Online-Unterricht hatten, werden sie plötzlich mit einer normalen Prüfungssituation konfrontiert – ich kann absolut nachvollziehen, dass sich dabei Unmut regt.“ Das Land habe diesem Umstand zwar Rechnung getragen, indem es mehr Aufgaben als gewöhnlich zur Auswahl stellte. „Dementsprechend sind die Klausuren im grünen Bereich – ein Qualitätsverlust ist jedoch erkennbar.“
Etwas Positives der Pandemie abzugewinnen, „fällt mir schwer“. „Die Schülerinnen und Schüler können jetzt zwar besser mit Programmen und einem Laptop oder Tablet umgehen“, sagt Michael Scharnowski. „Doch mir erschließt sich nicht der Wert daraus, dass die Pandemie die Digitalisierung vorangebracht habe.“
„Das Soziale muss einen hohen Stellenwert haben“
Gelernt hat er aus dem Corona-Jahr, „dass das Soziale einen ganz hohen Stellenwert an der Schule haben muss“. „Jenseits der Fächer müssen wir die Jugendlichen in ihren sozialen Kompetenzen fördern“, erklärt er. „Daraus folgt, dass wir die Schule verschönern sollten und wir mehr Projekte brauchen, in denen die Jugendlichen aus der Schule einen gelebten Lern-Raum machen, in dem sie sich zuhause fühlen.“