Ein Jahr Ukraine-Krieg: „Dieser Wahnsinn muss aufhören“
Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Seit Beginn der Kämpfe leistet der Gelsenkirchener Jürgen Hansen humanitäre Hilfe in dem Land. „Dieser Wahnsinn muss aufhören“, fordert er.
Manche Erlebnisse aus dem Krieg lassen Jürgen Hansen nicht mehr los: „In einem halb zerbombten Keller kauerte ein weinendes Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt“, erzählt er. „Neben ihr lagen die Leichen ihrer Eltern.“ Oder der Soldat, der kurz hinter der Frontlinie auf eine Mine tritt. „Sein Unterschenkel wurde weggerissen“, sagt er. „Wir haben ihn verbunden und zum Lazarett gebracht.“ In diesen Momenten kommen ihm die Tränen. „Doch sie geben mir auch Kraft, um weiterzumachen …“
Jürgen Hansen kommt aus Gelsenkirchen. Über 30 Jahre leitet er hier ein Bauunternehmen. Für die SPD sitzt er seit einigen Jahren im Stadtrat. In Switlowodsk, das nahe der Großstadt Krementschuk in der Zentralukraine liegt, will sich der 65-Jährige nach dem Berufsleben zur Ruhe setzen. Seine Lebensgefährtin kommt aus dem osteuropäischen Land.
Hansen: Putin hat mir meinen Ruhestand kaputt gebombt“
„Switlowodsk ist eine beschauliche Kleinstadt mit rund 45.000 Einwohnern und liegt sehr schön am größten Stausee des Landes“, erzählt er. „Ich hatte mir ein Boot gekauft und es bereits über rund 3.000 Kilometer von Deutschland in die Ukraine gebracht.“ Doch dann überfällt Russland den Nachbarstaat. Aus der Traum vom geruhsamen Leben. „Putin hat mir meinen Ruhestand kaputt gebombt.“
Den Kriegsbeginn vor einem Jahr erlebt Jürgen Hansen in der Ukraine. „Selbst als sich die Situation in den Tagen und Wochen zuvor zuspitzte, hätte ich meinen Arm darauf verwettet, dass es keinen Krieg gibt.“ Am Morgen des 24. Februar 2022 weckt ihn seine Partnerin. „Auf Kiew fallen Bomben, der Russe marschiert in die Ukraine ein“, erzählt sie ihm. „Das glaube ich nicht“, entgegnet Jürgen Hansen. Die Bilder im Fernsehen belehren ihn eines Besseren. „Ich war geplättet.“
Zu Kriegsbeginn überschlagen sich die Ereignisse
In der Folge überschlagen sich die Ereignisse. „Es war chaotisch.“ Er muss sich entscheiden, ob er nach Deutschland geht oder in der Ukraine bleibt. „Für meine Partnerin war sofort klar, dass sie aufgrund ihrer Familie ihre Heimat nicht verlässt“, berichtet er. „Wenn Du bleibst, bleibe auch ich“, sagt er ihr.
Seit Beginn der Kämpfe leistet Jürgen Hansen humanitäre Hilfe. „Durch meine Kontakte in Gelsenkirchen habe ich mithilfe der Stadt sofort wieder die Task Force Flüchtlingshilfe ins Leben gerufen.“ Die Task Force gründet er mit weiteren Mitstreitern im Jahr 2015, um Flüchtlingen in der Ruhrgebietsstadt zu helfen.
„Chaotische Zustände“ an ukrainisch-rumänischer Grenze
Kurz nach Kriegsbeginn begleitet er den ersten Flüchtlingstransport aus Switlowodsk an die rumänische Grenze. „Zeitgleich kam der erste Lkw mit Hilfsgütern aus Gelsenkirchen dort an“, berichtet er. „Der Fahrer durfte aber nicht über die Grenze, sodass ich mich hinter das Steuer des 40-Tonners setzen musste – es waren chaotische Zustände.“
In den Folgemonaten organisieren Jürgen Hansen und sein Team zehn Hilfstransporte in die Ukraine. „Dank der Stadt Gelsenkirchen konnten wir der Feuerwehr Krementschuk ein ausgemustertes Feuerwehrauto übergeben“, berichtet er. „Und einen verletzten Ukrainer habe ich mit meinem Auto zum Bergmannsheil nach Gelsenkirchen gebracht, wo er kostenlos eine neue Hüfte bekommen hat – danach habe ich ihn wieder nach Hause gefahren.“
Krankenwagen für Krankenhaus in Ukraine
Dem Krankenhaus in Switlowodsk spendet er einen Krankenwagen. Ein weiteres Rettungsfahrzeug übergibt er dem Bataillon aus Krementschuk, das an der Front kämpft. „All das mussten wir mit Spendengeldern finanzieren“, erklärt er. „Ohne die Unterstützung meiner Helferinnen und Helfer, die Tiertafel Gelsenkirchen und natürlich die Spenderinnen und Spender wäre das nicht möglich gewesen.“ In Krementschuk hat Jürgen Hansen mittlerweile einen Orden für sein Engagement erhalten.
Einer dieser Helfer ist Uwe Bestmann. „Jürgen Hansen und ich haben gemeinsam mit fünf weiteren Mitstreitern die Task Force Flüchtlingshilfe gegründet“, erzählt er. „Das war 2015, als viele Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland kamen.“ In Gelsenkirchen veranstalten sie seinerzeit zunächst ein Kinderfest. Später unterstützen sie unter anderem Familien dabei, Formulare auszufüllen und eine eigene Wohnung zu finden. „Das Strahlen der Kinder, wenn sie nach Monaten in einer Turnhalle ihr eigenes Zimmer betreten …“ Das sei für ihn Motivation, sich zu engagieren.
Helferinnen und Helfer in Gelsenkirchen sammeln Spenden
„Am 24. Februar vergangenen Jahres schrieb mich Jürgen Hansen an“, erinnert er sich. „Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist“, lautet die Nachricht aus der Ukraine. Es werde schon nicht so schlimm werden, beruhigt Uwe Bestmann. „Doch es wurde schlimmer“, sagt er. „Jürgen Hansen fragte mich, ob ich etwas für seine Nachbarn organisieren könne, die ausgebombt worden waren – und das tat ich.“ Seitdem sammeln er und weitere ehrenamtliche Helferinnen und Helfer in Gelsenkirchen Spenden für die Menschen in der Ukraine.
Den ersten Hilfstransport im März vergangenen Jahres begleitet er bis an die Grenze von Rumänien zur Ukraine. „Die Situation war katastrophal“, erinnert er sich. „Es war bitterkalt – die Menschen wollten zu hunderten aus der Ukraine raus und haben jeden mit einem Auto gefragt, ob er sie Richtung Westen mitnehmen könnte.“ Die Grenzregion sei „Wald und Wiese“. „Das Deutsche Rote Kreuz hatte bereits Zelte aufgestellt und verteilte Suppe.“
In Gelsenkirchen können Spenderinnen und Spender seit rund einem halben Jahr Kleidung, Spielzeug oder Lebensmittel jeden Samstag in der Kirche St. Georg abgeben. „Cornelia Keisel hat mit ihrer Tiertafel die Kirche schon zuvor genutzt und uns gefragt, ob auch wir das Gotteshaus nutzen möchten“, erinnert sich Uwe Bestmann.
Nun stapeln sich blaue Müllsäcke mit Hosen, Kleidern und Pullovern für Männer, Frauen sowie Kinder in einer Ecke des Sakralbaus. In der Mitte des Kirchenschiffs beinhalten Koffer und Plastiktaschen Kleidung sowie Decken. „Dort vorne stehen Krankenhausbetten, die wir von der Evangelischen Klinik Gelsenkirchen bekommen haben“, deutet Uwe Bestmann in eine andere Ecke. „Die hätte die Klinik entsorgt – es ist schön, dass sie an uns gedacht hat.“ Rollatoren und Rollstühle parken daneben.
Spenderin sammelt Leergut, um Lebensmittel zu kaufen
Von der Spendenbereitschaft der Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener zeigt er sich begeistert: „Wir haben sehr viele Spenden erhalten und die Sachen, die wir bekommen, sind sehr gut – wir müssen kaum etwas aussortieren.“ Eine regelmäßige Spenderin habe nur eine kleine Rente. „Sie sammelt Leergut“, sagt er. „Und von dem, was sie damit einnimmt, kauft sie Lebensmittel für die Ukraine.“
Mitte Februar ist es in der ungeheizten Kirche kalt. „Ab 15 Uhr können wir unseren Atem sehen“, sagt eine Helferin, die gerade eine Pause macht. Der Heizlüfter, der neben ihr steht: „Mehr Dekoration als alles andere.“ Eine Toilette haben die Helferinnen und Helfer ebenfalls nicht. „Aber wir schmeißen doch nicht alles hin, nur weil wir kein Töpfchen haben“, sagt Uwe Bestmann. Er und die anderen wollen weitermachen, „solange die Menschen in der Ukraine Hilfe brauchen“.
Gelsenkirchen unterstützt Kinderkrankenhaus in Krementschuk
Jüngst hat Gelsenkirchen eine weiteren Hilfstransport auf den Weg gebracht: Mit zwei Stromgeneratoren unterstützt die Stadt ein Kinderkrankenhaus in Krementschuk. „Uns erreichte Ende vergangenen Jahres ein Hilferuf aus der dortigen Kinderklinik“, berichtet Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge. „Durch den russischen Beschuss der Energie-Infrastruktur kommt es immer wieder zu Stromausfällen.”
Das Krankenhaus behandle täglich rund 100 Patientinnen und Patienten. Es verfüge aber nur über eine alte und unzureichende Generator-Anlage. „Es wäre eine Katastrophe, würde dort der Strom ausfallen“, sagt Welge. Die Generatoren aus Gelsenkirchen erzeugten jeweils bis zu 40.000 Watt Leistung und könnten so das gesamte Krankenhaus mit Strom versorgen. Stadtkämmerer Luidger Wolterhoff kündigt weitere Hilfen an: „Die Gelsenkirchener Feuerwehr hat ein Fahrzeug flott gemacht, das in den nächsten Wochen ebenfalls nach Krementschuk gebracht wird.“
Frontlinie verläuft rund 200 Kilometer östlich
Heute, ein Jahr nach Kriegsbeginn, verläuft die Frontlinie rund 200 Kilometer östlich von Switlowodsk. „In den Süden, wo heftige Kämpfe um die Städte Bachmut und Kramatorsk wüten, ist es etwas weiter“, berichtet Jürgen Hansen. Regelmäßig versuche die russische Luftwaffe mit Drohnen den Staudamm, der den Fluss Dnepr oberhalb von Krementschuk aufstaut, samt Wasserkraft- und Umspannwerk zu zerstören.
„Das Kraftwerk versorgt die gesamte Region mit Strom und ist ein wichtiges strategisches Ziel für die Russen“, erklärt er. „Bisher ist es ihnen aber nur zweimal gelungen, das Umspannwerk zu treffen.“ Sollte jedoch der Staudamm brechen, „finden Sie von Krementschuk nichts mehr wieder – das wäre eine Katastrophe“. Switlowodsk läge höher als die Großstadt, sodass der Ort von der Flutwelle verschont bliebe.
Krementschuk sorgt Ende Juni 2022 für Schlagzeilen
Krementschuk, mit rund 220.000 Einwohnern etwa so groß wie Gelsenkirchen, sorgt Ende Juni 2022 für Schlagzeilen, als dort ein Einkaufszentrum zerstört wird. Mindestens 18 Menschen kommen ukrainischen Angaben zufolge ums Leben. Die Ukraine wirft Russland einen gezielten Raketenangriff vor. Moskau bestreitet das: Der Angriff habe einem Waffendepot gegolten. Die Detonation der Munition habe dann einen Brand in dem Einkaufszentrum ausgelöst.
Nach einem Jahr Krieg hätten sich die Menschen in der Region mit der Situation arrangiert – auch Jürgen Hansen gehe es so. „Man stumpft ab“, sagt er. „Bis auf den Flugalarm – drei bis vier Mal am Tag heulen hier die Sirenen – bekommen wir so gut wie nichts vom Krieg mit.“ Wenn es zu „wild“ werde, suchten seine Lebensgefährtin und er in einem kleinen Kartoffelkeller Unterschlupf – „der hat eine Betondecke und gemauerte Wände“.
Hansen: „Haben jeden Tag nur vier Stunden Strom und Gas“
Zurzeit lebe es sich in Switlowodsk ganz gut. „Wir müssen mit Einschränkungen klarkommen“, berichtet er. „Von 20 bis 5 Uhr herrscht Sperrstunde – das heißt hier ‚Kommandanten-Zeit‘ –, währenddessen alle Geschäfte und Restaurants geschlossen sind.“ Die Versorgung habe sich weitestgehend normalisiert. „Da haben wir schlimmere Zeiten hinter uns.“ Wenn es mal kein Hühnchen gebe, könnten die Menschen dafür Schweinefleisch kaufen – und umgekehrt. Temperaturen von minus 15 Grad herrschten derzeit in seinem Ort. „Wir haben jeden Tag nur vier Stunden Strom und Gas“, erzählt er. „Wenn es zu kalt ist, legen wir uns unter die Bettdecke.“
Die Angst ist jedoch ein ständiger Begleiter. „Die Luftabwehr schießt regelmäßig Drohnen ab.“ Die Bruchstücke würden zu gefährlichen Geschossen. „Ein Fragment ist einmal in einen Hühnerstall eingeschlagen – von dem ist nichts übrig geblieben.“
Bedarf an Spenden nach wie vor hoch
Der Bedarf an Spenden sei nach wie vor hoch. „Geld können wir immer gebrauchen“, erzählt er. „Davon können wir Sachen kaufen, die wir sonst nicht bekommen.“ Dringend würden warme Decken, Schlafsäcke und Insulin gebraucht. „Die ukrainischen Soldaten brauchen weich eingepackte Verbandskästen, wie sie in Autos zu finden sind“, fährt Jürgen Hansen fort. „Die können sie sich in die Hosentasche stecken.“ Konserven aller Art seien ebenfalls wichtig. „In zwei Schulen in Switlowodsk sind rund 7.500 Flüchtlinge aus Donezk und Luhansk untergebracht“, berichtet er. „Bis auf wenige Dinge, die in eine Plastiktüte passen, haben diese Menschen nichts mehr.“
In Deutschland beobachtet Jürgen Hansen eine „Spendenmündigkeit“. „Die Menschen sind nicht mehr so freigiebig wie zu Beginn des Krieges.“ Das hat für ihn verschiedene Ursachen: „Der Krieg nimmt nicht mehr solch eine große Rolle in den Nachrichten ein, wie vor einem Jahr.“ Hinzu kämen Inflation und Energiekrise. Er plädiert dafür, die Ukraine nicht zu vergessen und weiterhin zu unterstützen.
Lage an der Front „sehr angespannt“
Regelmäßig fahre Jürgen Hansen an die Front. „Die Lage dort ist sehr angespannt.“ Jeden Tag ließen 500 Soldaten ihr Leben – nachprüfen lässt sich diese Zahl nicht. „Welchen Sinn macht das?“, fragt er. „Dieser Wahnsinn muss aufhören.“
Es sei vollkommen egal, ob ein russischer oder ukrainischer Soldat sterbe. „Auch der Russe hat eine Mutter, die um ihn trauert“, sagt Jürgen Hansen. „Und er wird in einen unsinnigen Krieg geschickt, ohne zu wissen, wofür er kämpft.“ Er habe mit russischen Kriegsgefangenen gesprochen. „Denen wurde gesagt, sie würden nach Belarus zu einer Übung gebracht – und dann sind ihnen in der Ukraine die Kugeln um die Ohren geflogen …“ Der russischen Armee mangele es an Motivation. „Auf ukrainischer Seite sieht das anders aus“, erklärt er. „Die Soldaten wissen, wofür sie kämpfen: Sie kämpfen für ihre Mütter und ihre Väter.“
Hansen: „Frieden wird am Verhandlungstisch beschlossen“
Jürgen Hansen glaubt, dass der Krieg in der Ukraine in diesem Jahr enden werde. „Der Frieden wird aber nicht auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern am Verhandlungstisch beschlossen“, mutmaßt er. „Zurzeit geht es nur darum, sich eine möglichst gute Position für Gespräche zu verschaffen.“
Das Frühjahr werde eine „sehr schwierige Zeit“. „Russland bereitet eine Offensive mit 160.000 Mann vor, die sich auf die Region um Bachmut und Kramatorsk konzentrieren wird.“ Dem müsse die ukrainische Armee standhalten. „Deshalb ist es so wichtig, dass die Ukraine Panzer erhält.“
Krementschuk wird Ziel russischer Raketen
Experten gehen davon aus, dass der erwartete Vorstoß bereits begonnen hat. In der Nacht zum 16. Februar dieses Jahres wird auch Krementschuk Ziel russischer Raketen, die eine „kritische Infrastruktureinrichtung“ in der Großstadt getroffen hätten. Laut Medienberichten teilt das seinerzeit der Leiter der Militärverwaltung der Region Poltawa, Dmytro Lunin, in seinem Telegramm-Kanal mit.
Warum der deutsche Bundeskanzler immer so zögerlich sei, wenn es um Waffenlieferungen ginge, werde Jürgen Hansen in der Ukraine oft gefragt. Den Ukrainerinnen und Ukrainern sage er dann, sie müssten die Mentalität der Deutschen verstehen. „Olaf Scholz ist Norddeutscher – er durchdenkt alles fünf oder sechs Mal, bis er etwas beschließt“, meint Jürgen Hansen. „Und außerdem darf man die Geschichte Deutschlands nicht außer Acht lassen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Panzer nach Osteuropa zu schicken, ist keine leichte Entscheidung.“
Verwundeten Soldaten in Privatklinik behandeln
Dem Soldaten, der auf eine Mine getreten ist, ginge es heute wieder gut. „Wenn man mit einem Bein zu leben von gut sprechen kann“, räumt Jürgen Hansen ein. Er habe den Verwundeten nach Gelsenkirchen überführen wollen, wo er eine Prothese bekommen sollte. „Das hat nicht geklappt“, berichtet er. „Jetzt sammeln wir Gelder, um ihn nach Kiew in eine Privatklinik zu bringen.“